Über Selma Lagerlöf
von Gabriele Haefs
Frauen zählen, auch wenn wir beim Frauenzählen manchmal einen ganz anderen Eindruck bekommen, aber so erhellend und frustrierend, wie das Zählen sein kann, ist auch der Blick auf die Frauen, die einfach nicht übersehen werden können.
Eine neue Biographie (die noch keinen deutschen Verlag hat, es ist nicht zu fassen!) über Selma Lagerlöf bietet da eine Menge Anschauungsmaterial. Selma Lagerlöf war in vielen Situationen die „Erste“, erste Person aus Schweden, die einen Nobelpreis bekam, erste Frau, die mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, erste Frau in der Schwedischen Akademie … Die junge Journalistin Ellen Key sagte aus Anlass der Aufnahme in die Akademie:
„Selma Lagerlöf kam nicht durch die Frauenbewegung in die Akademie, aber mit Selma Lagerlöf kam die Frauenbewegung in die Akademie.“
Selma Lagerlöf war sich immer darüber im Klaren, dass sie vielfach die Erste war, aber nicht die Letzte bleiben wollte. Sie setzte sich energisch für weitere Frauen überall ein; dass 1926 die italienische Autorin Grazia Deledda mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, ist maßgeblich ihr zu verdanken: Die Akademieherren hatten nie von dieser Frau gehört und schlugen erst mal einen Mann nach dem anderen vor. Und so ungefähr das Erste, was die frischgekürte Nobelpreisdichterin Selma Lagerlöf öffentlich sagte, war:
„Ist das nicht typisch? Den Nobelpreis darf ich bekommen, aber bei Parlamentswahlen meine Stimme abgeben darf ich nicht.“
Sie war eine energische Vorkämpferin für das Frauenstimmrecht. In Aulestad, dem Wohnsitz des norwegischen Dichters und Nobelpreisträgers von 1903, Bjørnstjerne Bjørnson, liegt eine Tischdecke, die ihm die Vorsitzendes des schwedischen Komitees zur Erlangung des Frauenstimmrechts gestickt haben, jede Mitstickerin hat ihre Initialen eingestickt, und ehrfürchtig steht die Selma-Leserin vor dem kunstvoll verschlungenen S. L. (Bjørnson bekam die Decke zum Dank für sein Engagement für die Ziele der damaligen Frauenrechtlerinnen). Dass ohne Stimmrecht und Frauensolidarität nicht viel zu erreichen war, war schon der jungen Selma klargeworden. Ohne Einwilligung ihres Vaters konnte sie die ersehnte Ausbildung als Lehrerin nicht antreten – der Vater, überzeugter Gegner jeglicher Emanzipationsbewegungen, weigerte sich. Weil er aber das Landgut der Familie dermaßen heruntergewirtschaftet hatte, dass es schließlich zur Zwangsauktion kam, und weil er einsah, dass für Selma ohne Mitgift keine standesgemäße Ehe in Aussicht stand, erlaubte er es dann doch.
Die Studiengebühren musste Selma sich in der Verwandtschaft zusammenbetteln, fand dann aber Wohltäterinnen, Frauen aus dem oberen Bürgertum, die glaubten, weibliche Freiheit nur durch Bildung erlangen zu können, und die der hochbegabten jungen Frau nur zu gern das Studium finanzierten. (Dass Selma vom Nobelpreis das vom Vater verschlampte Familiengut zurückkaufte, ist eine andere Geschichte: Mårbacka, bei Sunne in Schweden, heute Lagerlöfmuseum und unbedingt viele Reisen wert).
Das ist also die eine Selma Lagerlöf. Dann gibt es das Bild, das viele von ihr haben, auch hierzulande, die ältliche Märchentante mit dem Dutt, eine liebe ältere Dame, aber eigentlich doch nicht als Literatur zu rechnen. (Der Nobelpreis erscheint irgendwie als peinlicher Fehltritt der damaligen Akademie).
Ihr schwedischer Kollege Sven Delblanc schreibt in einer schwedischen Literaturgeschichte, die in mehreren Bänden gegen Ende der 1980er Jahre erschien, sie sei keine Intellektuelle gewesen, ja, vermutlich nicht einmal besonders intelligent, und eine Schriftstellerin streng genommen auch nicht, denn sie habe ja eigentlich nichts ersonnen und keine eigenen Erlebnisse verarbeitet, sondern alles aus ihrer Phantasie und alten Überlieferungen geschöpft. Immerhin gesteht er, „eine uralte Frauentradition spricht durch ihren Mund.“
Noch früher, 1927, hatte der deutsche Literaturwissenschaftler Walter Berendsohn eine Lagerlöf-Biographie veröffentlicht und darin erklärt, sie habe ja leider überhaupt keine Ahnung von erotischen Schilderungen, aber was Wunder, sie war ja nicht verheiratet, doch sie schreibe „mit der Güte des mütterlichen Herzens.“ (Selma Lagerlöf fand die Biographie übrigens langweilig). Der bereits erwähnte Sven Delblanc schrieb 1983: Ihr Glaube an die „erlösende Kraft der Liebe“ weise hin auf „einen ahnungslosen Mangel an Kenntnissen über die Realitäten der Liebe.“
Der Leserin bleibt die Spucke weg, so viel überschäumende Erotik wie bei ihr ist bei ihren Zeitgenossen jedenfalls nicht zu finden, aber was nicht sein kann (das Fräulein und die Erotik), darf eben nicht sein, und wird also übersehen. Selma Lagerlöf machte sich da nichts vor, das werde wohl ihr Schicksal bleiben (da sie mit Männern im Bett nun mal nichts anfangen konnte), schrieb sie an eine ihrer Lebensgefährtinnen, und sie sei manchmal versucht, sich eine tragische Jugendliebe auszudenken, zu einem Mann natürlich, damit ihr endlich Erotik zugetraut werde.
Irgendwann, so mit achtzig, schrieb sie an ihre Lebensgefährtin Sohie Elkan, sie wollte das mit achtzig ändern, dann nämlich einen Roman schreiben, „wie die alte Frau Thoresen“, und den „Eros“ nennen. Das hat sie leider nicht geschafft, aber die Erwähnung von Magdalene Thoresen ist interessant. Diese dänisch-norwegische Autorin (1819 – 1902) gehörte zur ersten Generation skandinavischer Romanschriftstellerinnen und war für die Autorinnen der nächsten Generation, wie eben Selma Lagerlöf, ein großes Vorbild. Solche Aussagen zeigen, dass Selma ihre „Vormütter“ vor Augen hatte – und dass sie an die dachte, die nach ihr kamen, zeigt ihre unermüdliche Förderung junger Kolleginnen. Was die Literaturprofessoren aber nicht zu sehen bereit sind.
Während Berendsohn für sein Buch auch die „Entdeckung“ machte, dass Selma Lagerlöf ihren verschwenderischen Vater zum Vorbild für ihren Gösta Berlin genommen habe, (was sie energisch bestritt), beim Schreiben von „Gösta Berling“ , kam der Literaturforscher Fredrik Böök zu der Erkenntnis, sie sei beim Schreiben von dem schottischen Essayisten Thomas Carlyle beeinflusst gewesen. Böök ließ sich für diese Entdeckung gewaltig feiern, alle Hinweise auf gedruckte Interviews mit Selma Lagerlöf zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung von „Gösta Berling“, in denen sie beschreibt, welche Bedeutung Carlyle für ihr Schreiben hatte, halfen nicht, in der Literaturgeschichte wird gilt Böök noch heute als Entdecker der Verbindung Carlyle-Lagerlöf. Ihr schwedischer Kollege Hjalmar Söderberg erklärte übrigens 1908, als erstmals über den Nobelpreis für Selma Lagerlöf spekuliert wurde:
„Sie hat keine Rivalen unter den Frauen und auch nicht unter den Männern, aber das ist im Grunde eine Unmöglichkeit, denn ein Mann kann niemals einer Frau gegenüber Rivalität verspüren.“
Als 1891 ihr erster Roman erschien, „Gösta Berling“, waren die Kritiken allerdings noch etwas anders, zu viel Erotik, hieß es, insgesamt auch zu viel Phantasie, und eigentlich gar nicht zeitgemäß. In der schwedischen Literatur dominierte damals der Realismus, das war das eine Problem. Das andere, sicher viel schwererwiegend, dass hier eine junge Autorin in einem Stil schrieb, den es in Schweden noch nicht gegeben hatte.
Da Selma Lagerlöf sich die Kritik nicht weiter zu Herzen nahm, sondern bei ihrem Stil blieb, hieß es dann später, einfach so aus der mündlichen Überlieferung ihres Landesteils zu schöpfen, das könnte ja wohl jeder (natürlich schrieben sie in der männlichen Form), und erst, als der schwedische Autor Verner von Heidenstam (Nobelpreis 1916), ein Buch vorlegte, in dem er sich klar am Lagerlöfstil orientiert, waren die Kritiker zufrieden und fanden, da habe aber einer die schwedische Literatur endlich mal erneuert. Dass sich das Vorurteil hält, Selma Lagerlöf sei eigentlich gar keine „richtige“ Autorin, zeigt das oben erwähnte Beispiel von Delblanc.
Ihr heute bekanntestes Buch unterscheidet sich von ihrem übrigen Werk auf mehrfache Weise: „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ ist ihr einziges Kinderbuch, das einzige, an dem sie nicht lange gearbeitet und überlegt hat, und das einzige, das sie auf Bestellung geschrieben hat – einfach, weil sie Geld brauchte. Ihr einziges Kinderbuch ist eins zu viel – „Gösta Berling“, „Jerusalem“, „Der Kaiser von Portugallien“, um nur ein paar ihrer grandiosen Werke zu nennen, stehen in der Betrachtungsweise der Literaturkritiker im Schatten von Nils Holgersson, und Selma Lagerlöf gilt als „Kinderbuchautorin.“
Auf die Bemerkung, es werde höchste Zeit, den Literaturnobelpries endlich einer Kinderbuchautorin (von mir aus auch einem Kinderbuchautor) zuzusprechen, kommt unweigerlich: „Aber Selma Lagerlöf …“
Und als ich vor einigen Jahren zusammen mit Christel Hildebrandt Weihnachtsgeschichten von Selma Lagerlöf neu übersetzen und herausgeben durfte, meldete sich sofort ein Hörbuchmacher, der nur Hörbücher für Kinder herstellt, und wollte dieses Buch als Hörbuch. „Das sind aber keine Kindergeschichten.“
„Aber es ist doch von Selma Lagerlöf.“
„Ja, aber die ist keine Kinderbuchautorin.“
„Aber von ihr ist doch Nils Holgersson.“
(Zähneknirsch, vier Telefonate und die Forderung, einfach unser Buch zu lesen, bis der Mann aufgab und erstaunt feststellte: „Das sind ja gar keine Kindergeschichten. Was habt ihr da für eine komische Auswahl getroffen?“ Abermals Zähneknirsch und Schweigen).
Worauf ich mit all diesen Beispielen hinauswill, weiß ich selbst nicht so ganz. Zeigen, dass Frauen, auch wenn sie nicht übersehen werden können, dennoch nicht „zählen“, nicht so wie ihre Kollegen, klar, das ist ein Anliegen. Und weitersuchen und andere Beispiele finden, denn es schärft gewaltig den Blick dafür, wie Frauen im Literaturbetrieb behandelt werden und was alles falsch läuft. Aber wie wir unsere Energien bündeln können, und wie sich vielleicht eine Änderung erzielen lässt, da bin ich ratlos und würde gern darüber diskutieren.
Zum Einlesen in Selmas Welt, so lange es die Biographie nicht auf Deutsch gibt:
Liebe Gabriele, merci! Tobias
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Pingback: Selma Lagerlöf: Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden (1906) – buchpost
Vielen Dank für diesen gehaltvollen und superinformativen Beitrag! Jetzt erscheint es geradezu unverzeihlich, dass ich bisher tatsächlich nur Nils kenne. Das soll sich ändern. Danke für die Anregung und den Hintergrund.
Anna
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