Von Gabriele Haefs
Der norwegische Autor Steffen Sørum wurde mit einem hochangesehenen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Die meisten freuen sich, wenn sie einen Preis bekommen – nicht so Steffen Sørum. Denn zu seinem Entsetzen musste der arme Mann feststellen, dass für den Preis in diesem Jahr mehr Frauen als Männer nominiert gewesen waren. Ist bei so vielen weiblichen Nominierten der Preis also weniger wert? Das stand zwar dick und fett zwischen den Zeilen, aber er wollte sich dann doch nicht dazu äußern, sondern erklärte: „Wenn es umgekehrt gewesen wäre, dann wäre doch der Protest riesengroß gewesen.“

Helene Uri
Die Autorin und Sprachwissenschaftlerin Helene Uri (eine der vielen wunderbaren norwegischen Autorinnen, von denen viel zu wenig in deutscher Übersetzung vorliegt), antwortete dem lieben Kollegen: Irrtum. Wenn es umgekehrt ist, regt sich niemand auf, denn das gilt als „normal“. Hier ihr Artikel aus der norwegischen Tageszeitung Aftenposten (mit ihrer Erlaubnis, natürlich):
Tut mir leid, Sørum, ich sehe nicht dasselbe wie du. „Umgekehrt“ ist absolut üblich.
Steffen Sørum hat sich über ARKs Kinderbuchpreise geäußert, da für diesen Preis in den letzten vier Jahren in der Mehrzahl Frauen nominiert worden sind. Darüber ist er empört. Dazu hat er aber kaum Grund. Er schreibt unter anderem: „Ich gehe davon aus, dass es im umgekehrten Fall heftige Reaktionen geben würde.“
Aber es gibt kaum Grund zu dieser Annahme. Der „umgekehrte Fall“ ist nämlich ganz üblich.
Sørum verweist auf die Nominierungen der letzten vier Jahre. Unter zwanzig Nominierten findet er zwei Männer. Es wäre aber redlicher gewesen, sich den Preis insgesamt anzusehen. ARKs Kinderbuchpreis ist bisher 17 Mal vergeben worden. Zehnmal an einen Mann, und es mussten acht Jahre vergehen, bis die erste Preisträgerin an die Reihe kam.
Bei den insgesamt 92 Nominierten ist die männliche Mehrheit überwiegend: 52 Männer und 40 Frauen.
Doch wir begreifen schnell, warum Sørum sich auf die letzten vier Jahre konzentriert. Wenn wir von denen absehen, ergibt sich nämlich ein anderes Bild: 50 nominierte Männer, 22 Frauen. Also mehr als doppelt so viele Männer! Mit anderen Worten präsentiert Sørum uns eine ziemlich unredliche Rechnung.
2018 bin ich die Siegertitel von 47 norwegischen Literaturpreisen durchgegangen – insgesamt 1714 Preisträger*innen. Im Durchschnitt 69 % Preisträger.
Einige Beispiele:
Tiden-Preis: 88,9 % Männer.
Riverton-Preis; 84,4 % Männer
Sult-Preis_ den gibt es seit 1998, er ging an mehr als doppelt so viele Männer wie an Frauen
Brake-Preis/Ypsilon-Preis: 100 % Männer
P2-Romanpreis: über 75 % Männer
Bei den Kinderbuchpreisen sieht es nicht ganz so schlimm aus. Von den 47 Preisen, die ich untersucht habe, gibt es nur bei dreien mehr Preisträgerinnen als Preisträger. Diese drei Preise gehen alle an Kinder- und Jugendliteratur. ARKs Kinderbuchpreis gehört nicht dazu, mit „nur“ 60 Prozent Preisträgern hat dieser Preise ein besseres Gendergleichgewicht als die meisten norwegischen Literaturpreise.
Literaturpreise sagen nicht automatisch etwas darüber aus, was gelesen wird. Ich habe mir für ein Halbjahr von 2018 die meistausgeliehenen Kinder- und Jugendbücher angesehen. Diese Bücher stammen von zwölf Männern und zehn Frauen. Das klingt gar nicht so schlecht, aber die Männer sind mit viel mehr Titeln vertreten als die Frauen. 78 Bücher von 100 stammen von Männern, 22 von Frauen. Drei Männer besetzen die sechzehn ersten Plätze. Die erste Autorin finden wir auf Platz 35.Nicht einmal Sørum würde wohl behaupten, dass Männer hier unterrepräsentiert sind.
Das Geschlecht von Autorin oder Autor ist das eine, etwas anderes ist das der Personen in den Büchern, die von Kindern und Jugendlichen gelesen werden. „Seit einigen Jahren wird betont, dass Mädchen Bücher mit einer weiblichen Hauptperson lesen wollen“, behauptet Sørum. Das wäre dann anders als in der Literatur für Erwachsene, wo Untersuchungen belegen, dass Männer lieber Bücher über Männer lesen, während Frauen das nicht so genau nehmen.
Auf meine Frage nach der Quelle für diese Aussage antwortet Sørum per SMS „die Branche allgemein und die Marketingabteilung im Besonderen.“ Wenn ich das so sagen darf: Nicht alle Marketingleute stimmen da zu, aber das nur nebenbei.
In einer großen Studie aus dem Jahre 2011, für die über 5000 im 20. Jahrhundert erschienene Kinderbücher untersucht wurden, zeigt sich, dass es in einem Viertel dieser Bücher überhaupt keine weiblichen Personen gibt. Und als das Time Magazine die 100 besten Kinderbücher aller Zeiten kürte, stellte es sich heraus, dass in nur 53 davon Mädchen oder Frauen überhaupt etwas sagten. In den neuesten Disneyproduktionen, seit „Arielle“ sprechen die Prinzessinnen immer weniger. Im Durchschnitt haben die männlichen Personen fünfmal so viel Repliken, wie ein Artikel in Dagbladet 2016 nachweist. Selbst in „Die Eiskönigin“, das von zwei Schwestern handelt, reden die männlichen Personen mehr als die Hälfte der Zeit.
Eine weitere Untersuchung aus den USA zeigt, dass weniger als 20 Prozent der weiblichen Gestalten in auf Kinder ausgerichteter Kultur Karriere oder Arbeitsplatz haben – oder Träume und Berufsziele. Mädchen warten sehr viel auf den Prinzen, ob nun in wortwörtlichem oder übertragenem Sinn.
In der norwegischen Kinder- und Jugendliteratur sind Mädchen zum Glück sehr viel besser vertreten. Aber es herrscht nicht gerade ein Mangel an Jungen.
Viele der hundert beliebtesten Bibliotheksbücher haben eine Mischung aus Jungen und Mädchen als Hauptpersonen (wie Jørn Lier Horsts Detektivserien), andere haben einen Jungen in der Hauptrolle (wie bei Jeff Kinney). Stark vertreten unter den am meisten ausgeliehenen Büchern sind die über „Captain Unterpants“, die mit drei männlichen Hauptpersonen prunken können, inklusive des Superunterhosenmannes selbst. Auch Andy Griffiths „Baumhaus“-Serie wird oft ausgeliehen. Erst auf Platz 45 taucht eine weibliche Hauptperson auf: „Matilda“ von Roald Dahl.
Insgesamt finden wir in 44 von diesen Büchern Mädchen als Hauptpersonen. Die entsprechende Zahl für Jungen ist 74 (darunter ist allerdings ein Kater). Nicht doppelt so viele also, aber es ist auch hier nicht gerade leicht eine erschreckende männliche Unterrepräsentanz zu entdecken.
Die Diskussion über Prozente, Zahlen und Geschlechter kann wichtig und nötig sein, aber man sollte versuchen, redlich vorzugehen und zählen zu lernen, ehe man auf die große literaturpolitische Trommel schlägt. Wobei Steffen Sørum und ich vermutlich in einem Punkt übereinstimmen:
Es ist wichtig, dass Kinder gute Bücher lesen, die ihnen etwas über ihr Leben und ihre Welt sagen. Und dazu brauchen wir AutorInnen und literarische Personen aller Arten und aller Geschlechter – und eben auch Literaturpreise.
Gabriele Haefs