Besprochen von Else Laudan
In letzter Zeit sind mir ein paar grandiose Bücher untergekommen. Meine Eindrücke dazu möchte ich hier teilen. Ich beginne mit dem aufregenden Beinahe-Kriminalroman der Tschechin Radka Denemarková: Ein Beitrag zur Geschichte der Freude, genial übersetzt von Eva Profousová.
Der Ermittler
Es war einmal ein Polizeiermittler. Vielleicht ist er ein Würstchen, vielleicht ein viriles Mannsbild, vom Ermitteln versteht er was, doch dieser Fall wird ihn an seine Grenzen bringen, vielleicht auch darüber hinaus? Er ist jedenfalls nicht geschichtslos, manchmal sehr zu seinem Leid: In ihm steckt die Geschichte seines Lebens, seiner Suche, nach der Wahrheit, nach der Liebe, die Geschichte seines osteuropäischen Landes, Prags Geschichte, die Geschichte des Ringens mit dem Apparat, dem System, mit der Geschichte selbst. Das Hadern ist ihm nicht fremd, eher schon der Zorn, mit dem er es hier zu tun bekommt, ermittelt er noch oder fühlt er schon? Er ermittelt. Im Fall des Erhängten auf dem Dachboden einer Neubauvilla. Vieles spricht für Selbstmord. Wenn es denn so einfach wäre.
Die Frauen
Besonders drei von ihnen. Drei, die anders sind als die vielen und doch zugehörig, ungehörig, einander angehörig. Sind sie Rachegöttinnen? Wutentbrannte Opfer? Lustige Witwen? Strippenziehende Weise? Sie tauchen auf. Sie tauchen ab. Sie handeln. Sie handeln – erschreckend, eingreifend, informiert, intolerant. Weit ab vom kategorischen Imperativ, von universeller Ethik und dergleichen. Oder ist ihr Ziel womöglich eine utopische, bis dato ortlose Vorstufe, die, fast unerreichbar, doch Voraussetzung wäre, um überhaupt Ethik zu ermöglichen? Wie vermessen wäre das denn?
Die Gewalt
bekommt eine erschütternd konsistente Geschichte im Laufe der Geschichte. Sie liegt beiläufig verleugnet unter unserer Geschichte wie ein stacheliges Netz aus viel zu oft ungehört verhallten Aufschreien. Einmal hingehört, steigert sich das zu einer grausigen weltweit wütenden Kakophonie. Krass, inhuman, ungeahndet, ungebremst. Es ist Gewalt gegen Frauen. Nicht so wild, verglichen mit Völkermord. Wild, verglichen. Wild verglichen.
Die Freude
flitzt schwalbengleich durch die Erzählung. Tritt flüchtig in Erscheinung, als Sex, als Verliebtheit, als Loyalität, als Staunen. Und als das Glücksgefühl der Leserin über diese kühne, spielerische, mächtige Sprache, die an keinem Hindernis haften bleibt und alles überwindet.
Das Buch
Allen, die verrückende Lektüre lieben, kann ich diesen Roman nicht hoch genug anpreisen. Er verblüfft, mutet zu, wühlt auf, reißt mit, erschreckt, besänftigt, trägt davon und bleibt hängen. Mit phänomenaler Eleganz, Wildheit, Belesenheit und literarischer Chuzpe entfaltet die Autorin spitze verbale Flügel, schießt pfeilschnell durch die Geschichte des Buchs und die Geschichte der Neuzeit, macht bekannt mit schrägen, verkorksten, heroischen, jämmerlichen Menschen. Es wimmelt von überraschenden Bildern, Wendungen, Bewegungen. Und von Vögeln.
Die Vögel
Sie schwirren durch das Buch, durch die Geschichte, Schwalben, Kolibris, Adler, Wachteln, Habicht, Bachstelze. Die Schwalben haben das Leitmotiv inne, sie dominieren die Metaphernwelt. »Seit Jahrhunderten fliegen Schwalben hin und her und erzählen einander von den menschlichen Körpern da unten.«
Schwalben sind überall. Ihre Fähigkeit zu egofreiem Handeln, zum Bewegen in Gemeinschaft verkörpert etwas untergründig Utopisches, das – nie aufdringlich, doch beharrlich – in schönstem Kontrast steht zu den vereinzelten, nur stümperhaft mühsam kommunizierenden, in narzisstischen und identifikatorischen Konflikten herumhampelnden Menschen. Menschen, die es kaum von A nach B schaffen, ohne sich ideologisch oder alkoholisch oder sexuell oder sonst wie krisenhaft zu verheddern. Wie der Ermittler. Die Schwalben wecken und nähren eine Ahnung von stoischer Nichtaggressivität. »Brauchen Schwalben Mut? Sie leben auf ihre Weise, anders können sie es nicht.«
Die Autorin
Radka Denemarková, geboren 1968, studierte Germanistik und Bohemistik in Prag, wo sie 1997 promovierte. Sie unterrichtet Creative Writing am Institut für tschechische Literatur in Prag, übersetzt aus dem Deutschen und arbeitet als freie Journalistin, Schriftstellerin, Dramatikerin und Drehbuchautorin. Als einzige tschechische Autorin ist sie dreifache Preisträgerin des Magnesia Litera Preises (in den Kategorien Prosa, Sachbuch und Übersetzung). Ihre Werke wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Die Übersetzerin
Eva Profousová hat eine Großtat vollbracht. Nie zweifelt man beim Lesen daran, hier eine originäre, unendlich mutige, sichere Erzählerinnenstimme vor sich zu haben. Rhythmus, Bilder, Gefühle – alles wirkt mühelos, brachial, authentisch, blitzend.
Großen Dank!
Dank auch an den Verlag Hoffmann & Campe, der dieses ungestüme, überraschende, inspirierende Buch liebevoll herausgebracht und mir verfügbar gemacht hat.
Und ist es nun ein Kriminalroman?
Ist ein Mensch ein Tier?
Ist Denken gesund?
Macht Lesen schön?
Else Laudan
Radka Denemarková
Ein Beitrag zur Geschichte der FREUDE
Deutsch von Eva Profousová
Hoffmann und Campe Verlag
ISBN 978-3-455-00511-0
336 Seiten, 24 Euro [D]
Radka Denemarková ist mit aktuellen Interviews online zu finden: https://www.sueddeutsche.de und http://www.ahojleipzig2019.de
Die Autorin liest in nächster Zeit aus diesem grandiosen Roman: in Dresden und in Landshut, in Linz und Retz (Österreich) sowie Ende Oktober in Stans und Basel (Schweiz). Mehr Infos hier.
Zum Schluss ein Satz von Radka Denemarková: »Das Buch dreht sich um die Themen Nationalismus und sexualisierte Gewalt. Ich bin davon überzeugt, dass beides zusammenhängt. Denken Sie nur an die Massenvergewaltigungen in den Balkankriegen der 90er Jahre, um nur ein Beispiel zu nennen. Erzwungener Sex ist ein Verbrechen und Mord an der Seele der Vergewaltigten. Insofern steht jede einzelne Vergewaltigung auch metaphorisch für das 20. Jahrhundert – einem Jahrhundert voller Vergewaltigungen einzelner aber auch ganzer Staatengemeinschaften. (…) Die Illusion, dass das Unglück den Menschen vermenschlicht, zerbricht definitiv.«
(aus dem Interview mit AhojLeipzig2019)