von Anne Goldmann
„Literatur. Jeder Text. Jede Versprachlichung. Die Welt, wie sie ist. Sie kann von der Literatur erhellt werden. Ausgeleuchtet. Verdunkelt. Verdeckt. Zerstückelt. Verhübscht. Verdammt. Gerettet.“ – So Marlene Streeruwitz in ihrer Rede im Literaturhaus Wien im Oktober 2018 zur Frage: „Was kann Literatur?“ Und weiter: „Die Literatur ist die einzige Möglichkeit, der Allmacht der Bürokratie und der Medien zu entkommen. Literatur ist die einzige Möglichkeit, den Überlebenswillen und die Lebensnot in der inneren Welt einer Figur wahrzunehmen und damit der Wahrnehmung des oder der anderen nahezukommen. So nahe wie das nur irgend möglich ist. Und so wahr eine Wahrheit sein kann.“
Aber: Literatur muss die Leserin, den Leser auch erreichen. Buchstäblich.
Nur was wahrgenommen werden kann, existiert.
Die Welt zu beschreiben, das, was uns umgibt, ist ein Weg, sie – wenn es denn gelingt – etwas besser zu verstehen. Es gilt hinzusehen, hinzuspüren, Fragen zu stellen, zu zweifeln. Sich vorzutasten, behutsam zu erforschen, zu erkunden, was vor sich geht, im Inneren eines Menschen, im Außen, in seinem Handeln. Zu riechen, zu schmecken, auch die Angst, die Not, das Ausgesetztsein. Immer und immer wieder neue Fragen zu stellen, auch sich selber, und nicht zu ruhen. Beiseite zu schieben, was wir sicher zu wissen glauben und was den Blick verstellt.
Was Kriminalliteratur kann
Der Krimi, der Kriminalroman, Spannungsroman, Thriller kommt auf den ersten Blick leichtfüßig daher. Er will unterhalten, fesseln, Spannung erzeugen mit Geschichten, die die Leserin, den Leser bannen, indem er sie und ihn in fremde Welten zieht oder die Bedrohtheit der eigenen kleinen Welt zum Thema macht, mit Ängsten spielt, mit der Faszination am sogenannten Bösen, am Schwierigen, das sich hinter der glatten Fassade eines jeden Menschen verbergen kann.
Aber gute Kriminalliteratur vermag mehr. Sie thematisiert Unrecht und Gewalt. Zeigt, so sie nicht dem Mainstream folgt und sich mit Schablonen zufriedengibt, im Klischee steckenbleibt, soziale Missstände und Brüche auf, beschreibt Machtstrukturen und beleuchtet die Auswirkungen sozial- und wirtschaftspolitischer Entscheidungen, tradierter Wertsysteme und allzu vertrauter patriarchaler Muster. Sie beschreibt Verhältnisse, die am Kippen sind, und die Folgen und liefert damit ein Stück Gesellschaftsanalyse. Sie stellt die gängigen Erklärungsmodelle hinsichtlich der großen und kleinen Verbrechen in Frage, die laufend begangen – und völlig unterschiedlich bewertet und sanktioniert werden, je nachdem, wer sie verübt. Das ist der Teil, der mich interessiert.
Was ist relevant?
In meinem aktuellen Roman „Das größere Verbrechen“ habe ich die Geschichten zweier Frauen – Theres und Selma – miteinander verwoben, die auf den ersten Blick verschiedener nicht sein könnten. Theres kommt aus einer gutbürgerlichen Familie und lebt mit Mann und fünfzehnjähriger Tochter in geordneten Verhältnissen. Ihre Familie weiß nichts davon, dass sie als Jugendliche ein Kind zur Adoption freigegeben hat. Selma Sudić hat die Gräuel des Bosnien-Kriegs überlebt und ist 1993 nach Österreich geflohen. Sie hat nie darüber gesprochen, was ihr widerfahren ist, versucht zu vergessen, kämpft aber nach wie vor mit den Folgen.
Während der Recherchen zu meinem Buch wurde sehr rasch sichtbar, dass solche Themen offenbar kaum interessieren. Ich habe vergleichsweise wenig darüber finden können. Die meisten der Frauen, die die Vergewaltigungslager im Bosnienkrieg überlebt haben, sprechen bis heute nicht darüber, aus Angst vor Stigmatisierung, aus Scham. Jene, die vor Gericht ausgesagt haben, wurden bedroht. Historiker vernachlässigen das sensible Thema. Die Literatur hat sich damit kaum beschäftigt.
Zum Thema „Adoption“ wiederum finden sich reichlich Quellen, nur wenige aber über abgebende Mütter. Auch sie kommen nur am Rand vor. Schuld, Scham, das lebenslange Gefühl des Versagens als Frau, als Mutter werden durch gesellschaftliche Normen und massive Vorurteile zementiert und zwingen sie in die Verdrängung, lassen sie allein in ihrer Not.
Was nicht wahrgenommen werden kann, existiert nicht.
Lesesozialisation und die Wahrnehmung der Welt
Ich habe mehr als drei Jahrzehnte mit ausgegrenzten Menschen gearbeitet. Das schärft den Blick. Auch dafür, wie sehr die männliche Perspektive nach wie vor bestimmt, welche Themen den Weg in die Nachrichten finden, die Politik beschäftigen (und in welcher Form), es wert sind, aufgegriffen, erzählt und rezipiert zu werden.
Wie die Sprache konstruiert auch die Sicht auf die Welt unsere soziale Wirklichkeit. Der von Männern geprägte Blick zeigt sich am deutlichsten in der Lesesozialisation. Der literarische Kanon, die Zusammenstellung jener Werke, denen eine wesentliche, normsetzende und zeitüberdauernde Stellung zugeschrieben wird, ist seit jeher – und nach wie vor – von Männern dominiert. Mädchen wie Buben erleben also bereits in der Schule, dass die Literatur, die ihnen als relevant, als wertvoll präsentiert wird, von Männern stammt.
„Frauen lernen lesen, wie die Männer lesen“, schreibt Ruth Klüger in ihrem Essay ,Frauen lesen anders‘. „Es ist nicht so schwer. Die interessanten Menschen in den Büchern, die als wertvoll gelten, sind männliche Helden. Wir identifizieren uns mit ihnen und klopfen beim Lesen jede Frauengestalt auf ihr Identifikationspotential ab, um sie meist seufzend links liegen zu lassen. Denn wer will schon ein verführtes Mädchen, ein verführendes Machtweib oder eine selbstmörderische Ehebrecherin oder ein puppenhaftes Lustobjekt sein? Höhenflüge und Abenteuer wollen wir und widmen uns dementsprechend den Männergestalten, denen wir das allgemein Menschliche abgewinnen. Wir werden dadurch aufmerksame Leserinnen, während die meisten männlichen Leser oft wenig anfangen können mit Büchern, die von Frauen geschrieben sind und in denen Frauen eine Hauptrolle spielen.“
Es hat naturgemäß Folgen, wenn Mädchen von Kind an – auch über ihre Lektüre – dahingehend sozialisiert werden, männliche Perspektiven einzunehmen, während Buben der weibliche Blick, weibliche Handlungsräume, weiterhin fremd bleiben.
Natürlich ist die Voreingenommenheit gegenüber Frauen im Literaturbetrieb aber auch eine Frage des Machterhalts. Es geht um Geld. Viel Geld. Um Einfluss, um Ansehen, Prestige. Wie anderswo auch.
#Frauenzählen
Was also tun? Den Status quo zu beschreiben, reicht nicht aus, um etwas in Bewegung zu bringen, zu verändern. Seit geraumer Zeit wird also geforscht, ermittelt, gezählt. Das Projekt #Frauenzählen erhebt in einer Reihe von Studien umfassendes Datenmaterial zur Sichtbarkeit von Autorinnen in der Literaturkritik, bei der Vergabe von Literaturpreisen, in Verlagsprogrammen, in schulischen Lernmaterialien, in Jurys und bei Stipendien.
Die bisherigen Untersuchungen beweisen: Männer besprechen vornehmlich Männer. Drei Viertel der von Männern rezensierten Titel stammen von männlichen Autoren. Noch krasser zeigt sich das Ungleichgewicht im Bereich der Kriminalliteratur: Auf fünf besprochene Autoren kommt eine Autorin. Dabei sind die Veröffentlichungszahlen in diesem Bereich paritätisch. Das Feuilleton, fest in männlicher Hand, entscheidet darüber, welchen Titeln literarische Relevanz zukommt. Autoren gewinnen im Durchschnitt fünfeinhalb Mal mehr jener Preise, die mit Renommee und Geld verbunden sind. Das liegt sowohl an der Besetzung der Jurys als auch an der Sichtbarkeit der männlichen Autoren. Männernetzwerke funktionieren wie in Politik und Wirtschaft selbstverständlich auch hier.
Ein umfassendes Bild der Welt
Zahlen sind wichtig, um das längst Bekannte greifbar zu machen. Zum Hinsehen zu zwingen. Zahlen sprechen für sich. Aber sie genügen nicht. Es ist notwendig, weiter immer wieder, immer neu, die weibliche Realität und Wahrnehmung gegen die gängigen Bilder zu stellen, zu zeigen, was ist, auszuleuchten, was bislang im Dunkel geblieben ist. Ein umfassendes Bild der Welt zu zeichnen und sichtbar zu machen, was verdeckt und verschwiegen wird.
Die Strukturen sind verfestigt, das Spiel lange geübt. Es wird also, gleich, ob wir schreiben, beschreiben, ob wir zählen, einen langen Atem brauchen um zu erreichen, dass die Mechanismen, die dieses Ungleichgewicht ermöglichen, nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Ich zähle auf die nächste Generation, die mit einem anderen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein aufwächst. Und auf alle, die – jetzt schon – offen und neugierig sind, sich nicht bedroht fühlen, wenn Gewohntes in Frage gestellt wird, sondern sich ernsthaft, lustvoll, spielerisch (was immer ihnen entspricht), darauf einlassen und entsprechend handeln.