Ich bin seit dreißig Jahren Feministin. Natürlich fing es viel früher an, aber da nannte ich es noch nicht so.
Als ich mit sechzehn wegen Revoluzzerinnenaktionen von der Schule geflogen und für die gymnasiale Oberstufe gesperrt war, ging ich drei Monate auf eine durchschnittliche Realschule in der Absicht, wenigstens die mittlere Reife zu machen. Ich entdeckte abseits der höheren Bildung eine Normalität, in der dicke Bücher lesende Mädchen als Bekloppte galten, Sex habende Mädchen als Nutten und ungefragt laut sprechende Mädchen als eine Art groteske Monstrosität. Aus dem Realabschluss wurde dann nichts, aber die Enge der sozialen Regeln dort war eine kurzfristig interessante, aufschlussreiche Erfahrung.
Als ich mit achtzehn in ein Kneipenprojekt am Rande Zehlendorfs (damals Westberlin) einstieg, aus einer biederen Eckspelunke ein buntes Musikcafé mit Billardtisch und Tanzfläche machte und mir mit Feuereifer hinterm Tresen die Nächte um die Ohren schlug, fand ich mich wieder in einer neuen Facette der Geschlechterverhältnisse. Ich lernte, lauter zu brüllen und mich schneller zu bewegen als besoffene Männer. Ich lernte das Dschungelgesetz, keine Furcht zu zeigen: Als Zehlendorfs Motorradrocker aufkreuzten, um den Standort auszuchecken, und nach dem sechsten Bier anfingen, die Bude zu zerlegen, reichte mein Whiskypegel gerade aus, um mit der nötigen Tollkühnheit dazwischenzugehen (Rocker haben einen Kodex, nach dem es verpönt ist, Frauen, Verrückte oder Wirte zu schlagen, aber das erfuhr ich erst hinterher). Ich lernte, einen Laden zu regieren, indem ich geschickt auf der Grenze zwischen begehrenswert und tabu, liebenswert und unberührbar lavierte. Ich fühlte mich ganz in meinem Element, bis mein Exfreund und Geschäftspartner mich nach meiner Schicht stalkte und vergewaltigte. Danach wichen mir alle aus, als wäre ich in Scheiße getreten und hätte sie noch am Schuh hängen. Meine zerschlagene Visage zeigte wohl, dass ich doch nicht unberührbar war. Zwei brave Machos boten unabhängig voneinander an, den Kerl für mich zu ermorden, der Rest der Baggage ging mir peinlich berührt aus dem Weg. Ich verkrümelte mich und wechselte die Szene.
Weiblich zu sein wurde zur kriegerischen Tarnung. Brauchte ich Kohle, ging ich in eine Billardkneipe und spielte um Geld – jeder wusste ja, dass Mädchen kein Pool können, also trank ich umsonst wie Cash und füllte mir die Taschen mit dem Zaster beschränkter Feierabendsäufer. Wollte ich Spaß, ließ ich mich von Typen einladen, denen es gefiel, mich als Accessoire zu zeigen (auffallend, blond, laut und eloquent), und die mich ansonsten in Ruhe ließen. Die wilde Emanze als Exotikum. Zum Feminismus bestand keine Verbindung.
In der Kreuzberger Künstler- und Hausbesetzerszene fühlte ich mich eine Zeitlang wohl, war aber letztlich zu verkopft und harmoniesüchtig, hatte zu wenig Freude an Suff, Punk und Krawall, um mehr zu werden als eine Besucherin. Die Maschinenschlosserlehre sollte mein aufrechter Triumph sein. Seht die Frau im Blaumann, Heldin der Arbeit, Widerstandskämpferin gegen Klischees: eine funkelnde Rolle, in der ich prächtig agieren konnte, sogar die türkischstämmigen Kollegen akzeptierten mich, weil ich Nachhilfe in den Berufsschulfächern gab. Mein rechter Unterarm wölbte sich vom Feilen, wurde stark und hart. Nach anderthalb Jahren wechselte der Ausbilder, der neue war ein Meister alter Schule. Als ich mich wegen einer Abtreibung zwei Tage krankschreiben ließ, eröffnete er mir unter vier Augen, wenn ich nicht freiwillig ginge, würde er Gründe finden, mich zu feuern, denn abgesehen davon, dass Mädchen in diesem Beruf eine Fehlbesetzung seien, habe seine Frau keine Kinder bekommen können und meine leichtfertige Tötung ungeborenen Lebens sei ihm zu widerwärtig, um mich weiter auszubilden. Ich hängte nicht ohne Erleichterung die längst nicht mehr geliebte Feile an den Nagel und wechselte die Szene.
Die nächsten paar Episoden erwiesen sich im Nachhinein als wesentlich abseitigere Experimente, aber ich war immer ein Learning-by-doing-Mensch und scheute keine Extreme. Mangels anderer Zugehörigkeit ging ich zu den Scientologen, deren Berliner Niederlassung in der Sonnenallee bestand damals großenteils aus liebenswert chaotischen Randständigen, die durch ständige Regelverstöße den Zorn der Verwaltungszentralen in München und Kopenhagen auf sich zogen (später wurden sie aufgelöst). Danach versuchte ich mich als Bäckereiverkäuferin, dann als brave Hausfrau, davon wurde ich schlafsüchtig und lungenkrank. Ich landete mehrmals in der Klinik, bis mir dämmerte, dass ich einen radikalen Kurswechsel brauchte. Meine Mutter lockte mich nach Hamburg, um im zweiten Bildungsweg Soziologie zu studieren und parallel in ihr neuestes Projekt einzusteigen: eine politische Frauenkrimireihe.
Seit ich mit elf Chandler entdeckt hatte, liebte ich Krimis und identifizierte mich mit den hardboiled-Typen, sie waren so unaufgehoben wie ich, wenn auch stockmacho, sie waren Helden, die anecken konnten, ohne sich kleinkriegen zu lassen – so etwas in weiblich fehlte uns, das leuchtete mir sofort ein. Ich dachte an die Kids aus der Realschule, an die im Blaumann, Krimis hatte jede und jeder schon mal gelesen, was wäre, wenn in einer so populären Kulturform die starren Rollen ausgehebelt würden? Frauen als Helden, das hatte was funkelnd Utopisches. Ich fand heraus, dass ich eine gute Übersetzerin bin, und erwärmte mich gänzlich für die Idee, die Kultur zu verändern. Plötzlich war ich Feministin, und alles ergab Sinn.
Das Projekt Ariadne bekam Wucht, strahlte hell und wirkte. Die Hälfte der Heldinnen war lesbisch, ein erfrischender und ansteckender Bruch nicht nur mit männlichem Heroismus, sondern auch mit dem Klischee der ewig konkurrierenden Femmes fatales. Auf einmal verliebten sich überall Frauen in Frauen. Es gab Berge von Post – Leserinnen jubelten und krittelten und wollten mitreden, feierten ihre Lieblingsautorinnen, forderten mehr Sex oder weniger Sex in den Krimis, luden mich zu Vorträgen in allen Städten ein und begrüßten mich mit im Chor gesprochenen Zitaten aus den Romanen.
Es war die letzte lebhafte Zuckung der neuen Frauenbewegung, die sich mit der allmählichen Institutionalisierung des Genderthemas auflöste, aber das wussten wir noch nicht. Erst als die großen Konzerne den Aufbruch der Frauen ins Genre als Marktlücke erkannt und übernommen hatten, als Ulrike Folkerts erste Tatortkommissarin wurde und der Mainstream verkündete, Frauen seien nun emanzipiert und damit alles erreicht, „der Feminismus“ also überflüssig, begann der Backlash langsam Fahrt aufzunehmen. Und die nächsten fünfzehn Jahre bekam ich oft zu hören: „Ich bin keine Feministin, ich habe nichts gegen Männer.“ Hallo?!
Ich bin unendlich dankbar, dass diese Haltung heute wieder auf dem Rückzug ist, auch wenn der Preis dafür zu hoch war – die Dimension des Backlashs trat unter anderem bei #metoo zutage. Weltweit hat die Gewalt gegen Frauen immer weiter zugenommen. Und die Ressourcen schwinden.
Feministin sein hatte nie etwas mit Männerhass zu tun. Feministin sein bedeutet, für eine Welt zu streiten, in der weder die große Erzählung noch die alltägliche Politik die männlich-weiße Dominanz als Maß aller Dinge abfeiert – was nur funktioniert, solange Frauen, Nichtweiße und abweichende Erkenntnisse möglichst unsichtbar bleiben. Dass sie es bleiben, dafür sorgt keine ominöse Verschwörung, wohl aber herrschende Tradition mit Seilschaften, Gewohnheiten und sozialen Sanktionen, und selbstredend auch der Marktliberalismus, der besser gedeiht, wenn hemmungslos konsumiert und Krieg geführt wird, und den solche Forderungen wie gerechtere Verteilung von Reichtum, Regulation der Macht von Lobbys oder allgemeine Teilhabe an Politik gefährden könnten. Das Problem mit der männlich-weißen Dominanz sind nicht „die Männer“, sondern eine Ethik, die historisch auf Kolonialismus und Zerstörung fußt und bis heute ein mehr oder weniger „zivilisiertes“ Faustrecht propagiert: Erfolg gibt Recht, der Sieg heiligt die Mittel. Herrschaft ist aber nicht das Ergebnis von „natürlicher Überlegenheit“, sondern von einem krassen Mangel an Skrupeln. Die Dominanz von Lobbys oder Gruppen ist nicht „natürlich“, sie ist das Ergebnis von Gewaltanwendung. Das ist kriminell.
Es gibt derzeit viel Gezeter darüber, dass in Sprache eingegriffen wird, um die unreflektierten Dominanzverhältnisse wenigstens in Frage zu stellen. Gegner solcher Eingriffe benutzen skurrilerweise gern das Vokabular derer, die sich gegen zugefügtes Unrecht wehren, sie reden von Gewalt gegen Sprache, Vergewaltigung, Terror, sogar von (feministischer) Herrschaft und Faschismus, als würde durch die Benennung des bisher Entnannten jemand unterdrückt. Ich halte das für Spiegelfechterei, ähnlich dem anfänglichen Gegenwind, den wir bei der weiblichen Besetzung des Genres erfuhren – da wurde uns von konservativen Medien unterstellt, wir hielten Männer per se für böse und Frauen für bessere Menschen … Wer die Bühne für sich allein hat, braucht über Unsichtbarkeit, Ausgrenzung und Ungleichheit nicht nachzudenken. Wer die überkommenen Lücken als „natürlich“ verherrlicht, wer die Menschen entwertenden, Gewalt bejahenden Mythen kritiklos übernimmt, unterstützt damit die weltweit praktizierten Gewaltverhältnisse.
Gewalt hat viele Gesichter. Feministin sein bedeutet hinzusehen und wahrzunehmen, wo und wie Gewalt ausgeübt wird, wer auf welche Weise den Preis für den Wohlstand einer Minderheit zahlt, welche Arten von Sklaverei weltweite Praxis sind und welche Interessenscliquen davon profitieren, Menschen unmündig zu halten und gegeneinander auszuspielen, damit sie überzeugt sind, dass man jetzt hier Menschenrechte beschneiden oder dort einmarschieren muss.
Feminismus ist keine Ideologie. Wer eine gerechtere Welt will, kann nur Feministin sein. Wer Menschen liebt muss Feministin sein. Wer das Leben schätzt muss Feministin sein. Feministin sein ist nicht bequem oder kleidsam, und es ist auch kein Allheilmittel. Bloß eine Haltung, die der eigenen Mittäterschaft Grenzen setzt und eine gerechtere Zukunft für zumindest erstrebenswert hält.
Else Laudan
Liebe Else, ein schöner und berührender Beitrag! Von Deinem schärfsten Vorwort-Kritiker. Tobias
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