Mir scheint, es gibt da ein Missverständnis. Sexismus ist nicht dasselbe wie sexuelle Belästigung oder sexualisierte Gewalt. Diese Dinge sind Teil des Sexismusproblems, aber noch längst nicht alles. Sexismus ist eine auf das biologische Geschlecht (lat. sexus) einer Person abzielende Form der Diskriminierung, kurz zusammengefasst. Diese Diskriminierung äußert sich auch, aber nicht nur, durch sexuelle oder sexualisierte Handlungen oder Aussagen.
Klar die rote Linie überschritten haben die Männer, die damals, als ich Praktikantin war, um einen Kasten Bier gewettet hatten, wer mich ins Bett kriegt (der Kasten Bier blieb im Laden; aber es war nun mal Tradition in deren Abteilung). Oder die Kollegen, die nach den Dreharbeiten die Wahnsinnsidee hatten, mir was in den Drink zu schütten (was ich zum Glück gleich ausgekotzt habe, und wo zum Glück ein guter Freund zufällig im selben Club war, der mich retten konnte). Oder der Journalist, der mir erst einen Heiratsantrag („Wollen Sie meine Frau werden?“, wir duzten uns nicht mal) machte und mir dann, nachdem ich abgelehnt hatte, seine pornografischen Gewaltfantasien mit mir in der Hauptrolle schriftlich zukommen ließ. Der Regisseur, der wollte, dass ich ihn in der Zeit unserer Zusammenarbeit jeden Morgen mit meiner „sexy Stimme“ wecke. Der Regisseur, der über meine berufliche Zukunft sprechen wollte, aber nur, wenn ich mit auf sein Zimmer komme. Der wichtige Buchmensch, der mir die Hand aufs Knie legte und flüsterte, er wünsche sich von mir erotische Romane, man könne das ja dann gemeinsam mal alles durchspielen. Der andere wichtige Buchmensch, der mich gern „anschmiegsamer“ und „dankbarer“ gehabt hätte. Der Pressemensch, der mir mitten in der Nacht per Chat mitteilte, in welcher Bekleidung er mich gern sehen würde. Die Liste ist sehr lang, sie ist eindeutig, und die wirklich traumatischen, die wirklich schlimmen Vorfälle, die mir bis heute Albträume bereiten und wegen denen ich psychologische Begleitung brauchte, habe ich noch gar nicht aufgeführt.
Ebenfalls komplett sexistisch die folgenden Vorfälle: Die Jurorin von Jugend musiziert, die meinte, ich müsse mich als Mädchen anders anziehen auf der Bühne, Röckchen und Blüschen und bitte die Haare anders, so sehe ich ja aus wie ein Junge. Die vielen Menschen aus dem Bereich der klassischen Musik, die immer wieder, seit ich klein war, betonten, dass Frauen nicht so gut Klavier spielen können wie Männer, weshalb Frauen Klavierlehrerinnen werden und Männer Karriere machen. Der Zeitungsredakteur, der meinte, junge Frauen seien in Zeitungsredaktionen nicht gut aufgehoben, da ginge es schließlich um was. Der Professor, der meinte, eine Doktorarbeit sei für eine Frau Schwachsinn, ich würde doch bestimmt sowieso irgendwann heiraten. Der Regisseur, der mir sagte, Frauen seien ohnehin keine guten Regisseure [sic!], aber machten sich hervorragend als Assistentinnen. Die Kollegin, die überall herumerzählte, ich hätte den Job nur bekommen, weil ich mit irgendwem im Bett war. Die Vorgesetzte, die einem weniger qualifizierten Kollegen signifikant mehr Gehalt anbot als mir, bei Frauen „weiß man ja nie, wie sie sich entwickeln“. Die andere Vorgesetzte, die einem ähnlich qualifizierten Kollegen, der anders als ich allerdings noch nicht für sie gearbeitet hatte, signifikant mehr Gehalt anbot als mir, weil sie Angst vor mir als direkter Konkurrentin hatte. Die älteren Sprecher im Studio, die mich „Mädchen“ nennen. Die älteren Sprecher, die erstmal fragen, wo „der Regisseur“ ist, obwohl ich auf dem Regiestuhl sitze. Der wichtige Buchmensch, der mir sagte, ich solle mich mit Dingen beschäftigen, mit denen ich mich auskenne, und nicht über Terroristen und solchen unweiblichen Kram schreiben. Der wichtige Buchmensch, der mir sagte, Frauen gehörten nun mal ins Taschenbuch, nur wichtige Literatur ins Hardcover. Der wichtige Buchmensch, der fand, mit Frauen solle man nicht übers Geschäft reden, die verstünden das einfach nicht richtig. Der Journalist, der ein unveröffentlichtes Buchmanuskript in der Schublade hatte, und mir deshalb erklären wollte, wie man richtig Bücher schreibt (da hatte ich schon drei Veröffentlichungen, oder waren es vier). Der Journalist, der keine Lust hatte, sich mit mir zu unterhalten, weil er Frauen wie mich „unheimlich“ und „angsteinflößend“ findet. Wo soll ich da aufhören? (Möglicherweise erweitere ich diese Liste nach und nach. Es fällt einem ja immer wieder noch was ein.)
Das ist Sexismus. Die bewusste oder unbewusste Überzeugung, jemand könne aufgrund des biologischen Geschlechts irgendetwas nicht oder sei für gewisse Dinge besonders gut qualifiziert. Frauen können doch gut dies. Männer können doch gut das. Oder eben nicht. Strukturell drängen diese Vorurteile Frauen und Männer in bestimmte Richtungen, beruflich wie privat, und nicht immer, wie man oben sehen kann, hat Sexismus also etwas mit sexuellen Übergriffen oder anzüglichen Sprüchen oder ähnlichem zu tun. Gewalt in dieser Form entsteht aber daraus, dass sich (zumeist) Frauen in einer weniger privilegierten Position befinden und (zumeist) Männer in einer mächtigeren Position, die sie entsprechend ausnutzen können oder wollen, und sie können es problemlos tun, weil sie (in den allermeisten Fällen) straffrei davonkommen bzw. nicht mal angezeigt oder mit Vorwürfen konfrontiert werden. Und es fängt mit diesen vermeintlich kleineren, vermeintlich harmloseren Sprüchen an.
Das alles ist jetzt nur eine kleine Sammlung aus meinem Leben, und ich fürchte, ich hatte noch Glück, weil ich mich trotzdem durchgekämpft habe und es immer noch tue. Ich bin vielen Menschen begegnet, die eben nicht so dachten und von denen ich eine Menge lernen konnte, Frauen wie Männer. Ich merke mit jedem Jahr mehr, wie wichtig Netzwerke sind, die aus Menschen bestehen, die für diese Thematik sensibilisiert sind, Netzwerke, in denen man sich gegenseitig unterstützt, statt gegeneinander zu arbeiten oder nur Seilschaften zu fördern, um selbst besser voranzukommen.
Warum ich das alles aufgezählt habe? In der Hoffnung, dass es etwas sensibilisiert. Den Blick auf Situationen ändert. Wann man selbst sexistisch denkt und handelt. Wo man es bei anderen sieht. Und dass man anfängt, etwas dagegen zu tun. Am besten durch radikale Selbsteinsicht und ebenso radikales Umdenken.