Politische Kriminal- und Noir-Literatur von Frauen erzählt eine andere Geschichte
von Else Laudan
Auch wenn ich keineswegs glaube, dass gute Bücher im Handumdrehen die Welt verbessern: Die Art, wie in unserer Kultur Wirklichkeit abgebildet wird, macht in der Weltwahrnehmung lesender Menschen einen Unterschied aus. In diesem Sinne hat Literatur Einfluss und Verantwortung. Je mehr Leute ein Buch erreicht, desto mehr kann es bewirken.
Die von politischen Krimiautorinnen gezeigte Wirklichkeit ist voller Handlungsbedarf. Denn noch in der besten Demokratie, fast weltweit, sind Gier und Gewalt akzeptabel, ist der Maßstab korrekten Verhaltens ökonomischer Erfolg. Die Folgen: Zerstörung, Ausbeutung, Konkurrenz, Korruption, Intoleranz, Krieg, Hunger, Perspektivlosigkeit, Ungleichheit, diverse Formen alltäglicher Gewalt. Obwohl gute Politkrimis eine beeindruckende Tradition darin haben, all das sichtbar zu machen, ist auch im Genre die vorherrschende Erzählperspektive weiß, männlich, mittelständisch oder Elite. Das ist in der Literatur fest tradiert, genau wie in der gängigen Lesart der Menschheitsgeschichte – und daran hat sich nicht genug geändert,
seit Brecht 1935 schrieb:
Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? (…) Jede Seite ein Sieg. Wer kochte den Siegesschmaus? Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen?
Wer in der Geschichtsschreibung nach dem weiblichen Teil der Weltbevölkerung sucht, muss auf feministische Werke zurückgreifen, denn woanders kommen Frauen kaum vor (bis auf dekorative Gattinnen und Galionsfiguren ›weiblichen‹ Wirkens). Die Mainstream-Betrachtung von Geschichte, aber auch von aktuellem Zeitgeschehen ist immer noch erschütternd patriarchal geprägt. Ob dokumentarische Berichterstattung, Bildungsmaterial oder höhere Weihen der fiktionalen Literatur: Die sichtbaren, breit als relevant anerkannten Akteure des Zeitgeschehens sind überwiegend christlich gebildete männliche Weiße (eine Gruppe, die eigentlich kaum 5% der Weltbevölkerung ausmacht). Historisch und gegenwärtig scheint sich praktisch alles um ihre ach so vernünftigen Interessen und Konflikte zu drehen. In dieser unsere ganze Kultur prägenden Lesweise, die unsere Geschichtsschreibung ebenso manipuliert wie unsere Gegenwartsdeutung, gibt es ein Übermaß an blinden Flecken, an Verdrängtem und Verschwiegenem. An dieser Stelle können gute Krimiautorinnen eingreifen. Und tun es.
Der Genuss, nicht eingelullt, sondern beunruhigt zu werden
Es gibt in der Mainstream-Kultur einen betäubenden Konsens, der da lautet: »Wir leben doch jetzt in der fairsten aller möglichen Welten. Wer Wohlstand hat, verdient ihn auch. Alle haben Rechte. Wir tun alle nichts Böses, abgesehen von ein paar kranken Psychopathen, mit denen sich zu befassen angenehmen Grusel produziert.«
Dieser verbreitete Glaube ist zwar schön konsumkompatibel, aber eine satte Illusion. Die Welt ist voller Unrecht, Ausbeutung, Zerstörung und Gewalt, nur sieht man sich das nicht so gerne an, weil es ja deprimiert. Soziale Ungleichheit, Kriege und Profitgier sind legal und breit akzeptiert, überhebliche weiße Männer wie Trump bestimmen nach wie vor die Regeln, die ihnen die Pfründe sichern. Die großen Verbrechen und Intrigen der nach Macht und Gewinn strebenden Eliten und ihrer Erfüllungsgehilfen bilden einen weltweiten Sumpf, in dem die tagtäglichen Anstrengungen der Redlichen, der Aufrechten und der Unbedarften untergehen, bis sie spurlos verschwinden, so unsichtbar werden wie die Frauen in der Menschheitsgeschichte. Es sei denn, die Fiktion holt sie ins Licht.
Seit die Finanzkrise das trügerische Gefühl von systemimmanenter Sicherheit zum Platzen brachte, entdecken spürbar mehr und mehr Menschen den Genuss scharf politischer Genreliteratur. Sie stellt eine sinnliche und höchst kreative Form des Einspruchs dar. Wenn sie exzellent geschrieben ist, kann sie mit Einblicken in sonst verdrängte Wirklichkeiten berühren, aufwühlen, Unruhe erzeugen. Ein starker, packender Politkrimi irritiert, er sägt an dem verlogenen Betäubungskonsens. Gute Kriminalromane handeln ja davon, wo die Welt nicht heil ist. Sie erzählen, wie im Namen von Fortschritt, Zivilisation und Ordnung abgesahnt, betrogen, ausgetrickst, zerstört und getötet wird. Wer einmal auf den Geschmack kommt und beginnt, die literarische Erschütterung von Gemeinplätzen zu genießen, entwickelt großen Appetit auf genau solche Krimis.
Anders als bei kommerziellen Thrillern, die auf Angst und wohligen Schauder setzen, erzeugen gute Politkrimis ihre Mitfieber-Spannung aus Realismus, Einfühlung und sozialem Konflikt. Das begeistert mich vor allem bei den kühnen feministischen Autorinnen*, die mit unterschiedlichen Mitteln versuchen, die ganze soziale Wirklichkeit zu zeigen. Da werden Mittäterschaft, Wut, das Sich-Einrichten in den Verhältnissen, Überforderung, Armut und Verzweiflung ebenso spür- und greifbar wie Zivilcourage, Vertrauen, Widerstand und Kreativität. Das hat alles viel mit dem eigenen Leben zu tun, mit unseren alltäglichen Kämpfen und Hürden. Und mit dem Wissen darum, dass die Welt nicht in Ordnung ist, so, wie sie ist.
Die Autorin und Dokumentarfilmerin Merle Kröger schrieb über ihr vorletztes Buch: »Grenzfall ist ein Roman, frei erzählt nach Ereignissen, die sich 1992, knapp zwei Monate vor den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen, nahe der deutsch-polnischen Grenze zutrugen. Wir haben darüber einen Dokumentarfilm gemacht, der 2012 unter dem Titel Revision im Kino lief. Parallel zur Filmrecherche entstand die Idee, eine Geschichte zu schreiben, in der sich dokumentarische Fäden von damals fiktiv ins Heute spinnen. Der Kriminalroman gibt die Chance, emotionale und politische Momente zu verdichten und die Realität in einen Möglichkeitsraum umzudenken.«
Die Welt, in der wir morgens aufstehen und uns durch unseren Alltag manövrieren, wimmelt nur so von verschwiegenen und bereitwillig verdrängten Wirklichkeiten. Ein kluger Krimi wie Grenzfall führt uns direkt zu den Lücken und füttert das denkende, fühlende Wesen in uns mit packend erzählter Realität.
Von unten? Von außen? Von wo aus wird erzählt?
Am spannendsten finde ich Krimis, die einen vom normalbürgerlichen Helden- oder Ermittlerblickwinkel abweichenden Erzählstandpunkt einnehmen. Das ist in politischen Kriminalromanen von Frauen oft der Fall – logisch, weil Frauen in unserer Normalität andere Plätze zugewiesen bekommen und besetzen: Die Position im Zentrum des Weltgeschehens ist selten weiblich. Zugleich scheint mir der Blick der besten Autorinnen besonders umfassend, integrativ, kundig in Facetten menschlichen Alltags.
Liza Cody ist ein gutes Beispiel. Die Britin führt mit ihren unkonventionellen, subversiven und warm humorvollen Kriminalromanen vorzugsweise an Figuren heran, die sonst kaum zu Wort kommen. In Lady Bag ist es eine obdachlose Alkoholikerin, durch deren Augen wir London ganz anders sehen. Miss Terry begleitet eine junge Lehrerin mit brauner Haut durch die schmerzliche Erkenntnis, wo die Grenzen mittelständischer Toleranz in England verlaufen. Was mit solchen Verbrechensromanen gelingt, ist de facto das Erzeugen bzw. Schärfen eines gewärtigeren Blicks. Wer so ein Buch gelesen hat und beeindruckt war, schaut anders auf die uns tagtäglich umgebende Wirklichkeit, sieht zuvor ausgeblendete Menschen und Prozesse.
Leider nur noch antiquarisch erhältlich ist die einzigartige Berlin-Tetralogie von Pieke Biermann, die damit ihrer Zeit weit voraus war. Potsdamer Ableben und Violetta zeigen Westberlins Sub- und Gegenkultur, in Herzrasen und Vier, fünf, sechs befasst sie sich mit Folgen der ›Wende‹ für die geschichtsträchtige, wandelbare Metropole und ihre Menschen. Der Fokus der Handlung liegt einerseits auf polizeilicher Verbrechensbekämpfungsarbeit, andererseits beleuchtet Pieke Biermann aufs liebevollste ein Milieu, das sonst eher als anrüchige Kulisse dient: die Welt der Huren und Freier. Wer eine nicht unter überheblichem Moralkleister begrabene, authentische Vorstellung vom Gewerbe bekommen möchte, sollte sich diese zutiefst realistischen, grandios geschriebenen Romane zu Gemüt führen, es sind echte Highlights des Spannungsgenres. Die sehr eigene Erzählweise verbindet die faustknöchelharte Direktheit der Straße mit zartfühlenden, ungeheuer stimmungsvollen Momentaufnahmen der sich verändernden Stadt Berlin – das ist große Kunst und dabei dicht vollgepackt mit Zeitgeschehen.
Historische Wahrheiten, die in keinem Lehrbuch stehen
Noch mal Berlin. Der Sommer vor dem Mauerfall aus der Sicht einer etwas begriffsstutzigen jungen Frau ist Thema des Krimis Die gefrorene Charlotte von Dagmar Scharsich. August 1989: In der Charité erscheinen täglich weniger Mitarbeiter zum Dienst, die verbliebenen verharren in erschrockener Lähmung oder treffen ihrerseits Vorkehrungen für eine spontane Ungarnreise. Zugleich spitzt sich ringsum die Atmosphäre zu: In Ostberlin wächst der politische Unmut, bürokratischer Stellungskrieg und Verdächtigungen blühen. Wem kann eine unerfahrene, nicht sonderlich wehrhafte Frau jetzt noch trauen? Dagmar Scharsich gelingt hier ganz ohne markige Helden und schwirrende Kugeln eine historische Momentaufnahme von atemloser Intensität.
Scharsichs dritter Roman, Der grüne Chinese, geht zurück bis 1909. Antiquarin Marie wird ein uralter Groschenroman angeboten: Wanda von Brannburg, Deutschlands Meisterdetectivin. Ist Wanda von Brannburg eine literarische Figur oder hat sie wirklich gelebt? Wie eine Matrioschka öffnet sich erst die Geschichte von Marie, die dann der Geschichte von Wanda nachspürt, wobei sie Fiktion von Fakten zu trennen sucht. Wer den Grünen Chinesen gelesen hat, sieht Berlin und seine Geschichte in einem anderen Licht. »Eine Fiktion, die es schafft, der wilhelminischen Epoche und der brodelnden Stadt Berlin mit ihrem Fortschrittsglauben und ihren Hinterhöfen, mit ihrer Kriegstreiberei und ihren preußischen Tugenden, ihrer Moral und ihrer Machtbesessenheit eine neue und nicht ideologisch besetzte Facette abzugewinnen. Dagmar Scharsich zeigt einmal mehr, dass sie sich vor allem einem verpflichtet fühlt: der Wahrheit ihrer Erzählung.« (Ludger Menke, krimiblog.de)
Ähnlich faszinierend fand ich die Lektüre des Romans Deutscher Meister von Stephanie Bart, auch wenn darin kaum Frauen vorkommen (aber die wenigen funkeln). Die Autorin erzählt eine Boxsport-Geschichte, überhaupt nicht mein Thema – doch sie zeigt daran beiher fast alle Facetten der Nazi-Kulturübernahme, ohne je zu dozieren. Der Sinto Rukelie Trollmann ist 1933 der beste deutsche Boxer, das schmeckt einigen Leuten überhaupt nicht, und entsprechend wird gedreht, gemauschelt und sabotiert. Empathisch, verschmitzt und historisch genau folgt die Geschichte verschiedenen sympathischen und unsympathischen Beteiligten, die zusammen ein zeitlos lebendiges Panorama der allmählichen, alltäglichen Kapitulation vor dem Faschismus erstehen lassen. Die über hundert Seiten im Ring sind reine Poesie. Stephanie Bart schreibt rasant und filigran, verführerisch und zugleich kühl, komplex und total eingängig. Deutscher Meister ist ein packender Thriller ohne Killer, ein sinnlicher, kühner Verbrechensroman.
Erzählen heißt Widerstand leisten
Eine gnadenlose Chronistin der Kriminalität von Staat und Großkapital ist die französische Wirtschaftshistorikerin Dominique Manotti. Sie erzählt von großen Verbrechen unserer Zeit, die nicht im Geschichtsbuch auftauchen. Ihre Politthriller beruhen auf historischer Kompetenz und umfassender Recherche, sie sind wütende Gesellschaftskritik, die aufklärt, aber nie schulmeistert. Noch die obskursten Themen aus Politik, Wirtschaft und Hochfinanz macht Manotti greifbar, bildhaft, thrillertauglich. Gern stellt sie durch wechselnde Perspektive den sozialen Standort und die Moral der Beteiligten heraus: Die mythisch hochstilisierten Macher aus Wirtschaft und Politik entlarvt sie als von Gier getriebene Gelegenheitsdiebe, die weitgehend ohnmächtigen einfachen Leute zeigt sie versehrt von den Verhältnissen. Ihre kühlen, präzisen Sätze zoomen dicht ran wie eine minimalistische Kamerafahrt, die mit den Augen der handelnden Figur blickt und ihr gleichzeitig ins Hirn guckt. Alles ist echt. Wer Manotti gelesen hat, kann die Winkelzüge der Gier erkennen und einige gängige Märchen leichter durchschauen, z.B. Krieg werde wegen Konflikten zwischen Völkern geführt, oder das Kapitalinteresse kenne irgendwelche Skrupel, oder die herrschende Politik setze ihm moralische Grenzen (›das würden die doch nicht zulassen …‹). Manotti schult den Blick für die Gemeinplätze, Beschönigungen und Leerstellen, die den Herrschaftsverhältnissen dienlich sind. Selten hat mich eine Autorin so dicht an die historische Stringenz gesellschaftlicher Verbrechen herangeführt. In dem 1944 spielenden Thriller Das schwarze Korps zeigt sie uns die Akteure einer historischen Ausnahmesituation, maßlos menschlich und mitten in all dem Sterben maßlos lebendig – Akteure, wie sie unsere Kultur auch hier und heute hervorbringt, weil die Motive, die Triebkräfte eben keine historische Ausnahme sind. Dieses unbehagliche Bewusstsein durchdringt jeden von Dominique Manottis knallharten Romanen und drückt sich in ihrem Credo aus: »Erzählen heißt Widerstand leisten.«
Realität und Wahrheit
Schon lange thematisiert Kriminal- und Noir-Literatur mit Vorliebe das, was verdrängt und verschwiegen wird. Die handwerklich versierte Fiktionalisierung macht denkbar, konkret vorstellbar, was Wahrheiten abseits des allgemein Verbreiteten sind. Politische Kriminalliteratur zeigt Versionen von Realität, die im Heile-Welt-Mainstreamkrimi keinen angestammten Platz haben, und die sind zahlreich. In diesem Sinn kann starke feministische Genreliteratur im allgemein kolportierten Weltbild die Lücken des Schweigens und der bequemen Lügen aufspüren, sie mit fiktiven, aber wahrhaftigen Geschichten füllen und damit auch die historische Deutungshoheit des Mainstream unterwandern.
Wunderbarerweise schreibt eine Vielfalt kluger, engagierter und unerbittlich forschender Autorinnen solche Romane. Ich habe hier nur ganz wenige genannt, es gibt viel mehr – rund um den Globus schreiben politische Schriftstellerinnen Genre-Literatur*. Möge der Nachschub an solch subversiver Munition, an dieser Form von Wahrheit nicht versiegen, bis wir – vielleicht, eines Tages – die Realität besser hinkriegen.
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* zum Beispiel, um nur eine kleine Auswahl zu nennen: Sara Paretsky, P.M. Carlson, Masako Togawa, Anne Holt, Liza Marklund, Kati Hiekkapelto, Christine Lehmann, Doris Gercke, Anne Goldmann, Zoë Beck, Patricia Melo, Claudia Piñeiro, Malla Nunn, Chalotte Otter, Tana French, Cathi Unsworth, Denise Mina und viele, viele andere.
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Toller Post! Einige bekannte Bücher habe ich entdeckt. Und viele neue entdeckt.
Dieses Jahr habe ich einige Aktionen entdeckt, die sich mit Autorinnen beschäftigen. Das finde ich wichtig.
Viele Grüße
Silvia
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Perfekter Einblick, war für mich absolut lesenswert. Liza Cody habe ich auf meine Leseliste gesetzt.
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Ganz viele neue Leseanregungen. Danke dafür!
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