In den letzten Jahren ist die Halbwertszeit von Romanen auf die von Burgern geschrumpft, bei vielen Büchern zu Recht, denn sie entsprechen in Geschmack und Konsistenz denen von Fast Food. „Messertanz“ nicht. Das bemerkenswerte Debüt von Katja Bohnet ist 2015 erschienen und soll dem Zeitstrudel entrissen werden, finden Anne Kuhlmeyer und Else Laudan.
Richtige, bunte Leute im Chaos
von Anne Kuhlmeyer
Für den einen ist Familie der Platz, an dem es Zuwendung und Hühnersuppe gibt, für den anderen ist sie ein Ort der Gewalt und des Grauens.
Rosa Lopez, Ermittlerin beim LKA in Berlin, wird zu einer schlimm zugerichteten Leiche in die Tristesse der Plattenbausiedlung Marzahn gerufen. Begleitet wird sie von Viktor Saizew, der gar nicht dabei sein dürfte, weil er wegen der Anfälle, unter denen er neuerdings leidet, zum Doc müsste. Der gigantische Viktor und die einsilbige Lopez sind ein eingeschworenes Team. Mit Geheimnissen.
Die russische Einwanderin in Marzahn bleibt nicht die einzige Tote. Man könnte meinen, ein irrer Serientäter gehe um. Aber so ist es nicht. Das heißt, irre ist der Mann, der für den Tod der Frau und für den anderer Menschen verantwortlich ist, nicht. Er hat, wenn schon keine guten, so doch plausible Gründe für sein Tun. Antisoziales Verhalten ist zwar ICD-10 codiert, aber es ist nicht ver-rückt, andernfalls müsste man die Hälfte der Menschheit als irre verstehen.
Katja Bohnet, 1971 geboren, Barkeeperin, TV-Moderatorin, Reisende und Mutter, zeichnet die Figuren in ihrem Debütroman einfühlsam, facettenreich, komplex und glaubwürdig. Im Gegensatz zu vielen anderen Krimis auch den Täter, der ohne Vernetzung mit Institutionen außerstande wäre, in dem Ausmaße kriminell zu handeln, wie er es tut. Mord ist gewissermaßen nur eine Nebenwirkung seiner Biographie, die mit der von Viktor verknüpft ist. Wie der Täter musste sich Viktor als Heranwachsender durchschlagen, im Wortsinne, hatte aber Glück mit seiner Großmutter. Liebe, Forderung und Förderung als Ressourcen führten ihn nicht in die Kriminalität, sondern zur Polizei. Die Kante in seinem Leben, an der es anders hätte kommen können, ist schmal und überzeugend dargestellt. Weniger überzeugend scheint der Umstand, dass man Viktor mit seinem Anfallsleiden nicht sofort aus dem Verkehr zieht.
Über solch kleine Holperigkeiten muss man hinwegsehen, denn der Roman ist wegen seiner sprachlichen Brillanz, den lakonischen Dialogen, der dichten Atmosphäre und der kreativen Bebilderung ein Vergnügen.
Er wird getragen von eigenwilligen Charakteren wie Lopez, deren Sohn als Kleinkind verschwand, der einbeinigen Tonja mit der sonoren Stimme und der behinderten Tochter, oder der quirligen Rechtsmedizinerin, die ihr Adoptivkind liebt, gleichgültig wie sehr es sie herausfordert. Mütter sind sie, Frauen mit Kraft und Trotz und Optimismus entgegen dem Wahrscheinlichen, weil es keine Alternative gibt. Alle haben Gewalt und Schicksalsschläge erlebt – und sich nicht abgefunden.
Es geht nicht alles gut aus, so viel sei verraten, das kann es auch nicht. Doch auf die Weise lässt der Schluss dieses großartigen Debüts auf eine Fortsetzung hoffen.
Katja Bohnet, Messertanz, Thriller, Droemer-Knaur, München, 2015, 304 Seiten, 9,99 Euro
Was ich mit „Messertanz“ erlebte
von Else Laudan
Zuerst
Obwohl ich ganz schlimme Vorurteile gegen die großen Mainstream-Verlage habe, besorgte ich mir voller Neugier das Debüt von Katja Bohnet, „Messertanz“. Mein erster, äußerlicher Eindruck fütterte mein Vorurteil: Titel & Cover reißerisch, wie ein Metzelthriller, zu dem ich nie gegriffen hätte, wäre mir die Autorin nicht im Internet als gute Kritikerin aufgefallen. Dazu passt anfangs noch der plakativ drastische Einstieg in den Text – üble Szene aus Opferperspektive (auf so was steh ich gar nicht) – allerdings bemerkenswert geschrieben! Hohes Tempo, dichte Atmo, keine Redundanzen, kein Wort zu viel. Nach dem Prolog: Auftritt der 1. Ermittlerfigur, Victor Saizew. Voll fertig, der Typ – dabei aber originell, keine Skandinavien-Kopie, sondern ganz eigen. Ebenso düster, verhärtet und glaubwürdig kommt die 2. Ermittlerfigur Rosa Lopez ins Bild. Überhaupt sind all die (zahlreichen) Figuren spannend, die meisten ziemlich kaputt, beschädigt von den Verhältnissen würde ich das nennen, und das macht Katja Bohnet echt absolut großartig: zeigen, dass und wie man an dieser Welt kaputtgeht, krank wird, verbogen, traumatisiert, wenn man was merkt.
Dabei ist das Ganze keineswegs hauptsächlich depressiv, sondern in erster Linie rasant, knapp, aber auch feinsinnig und welthaltig, bissig und manchmal witzig. Es ist ganz klassisches Hardboiled, was Katja Bohnet da schreibt, voller einsamer Held/innen, und hier fange ich an, sie zu feiern: Anders als die Mehrheit deutschsprachiger Autor/innen kann sie Hardboiled ungeheuer gut, die Sprache ist mühelos und knackig, die Pointen flink, die Charaktere und Settings lebendig! Chaotisch und ruppig zeigt sich ein Berlin voller Russ/innen (und anderen Migrant/innen der ersten, zweiten, dritten und vierten Generation), eine Gegenwart voller Gewalt und Machtspiele und Unmoral und Verbrechen – und doch gebären die Figuren auch immer wieder Hoffnung, manche mit Leichtigkeit, andere nur mit sehr viel Mühe. Das ist cool und stimmig, ist knallharter Realismus in kriminalliterarischer Form, liest sich ruckzuck weg. Ich möchte mehr davon.
Dann
Ich beschloss, euphorisch, das Buch im Juli als außerordentlich gelungenes Debüt bei unserer nächsten „Noir.au Bar“-Diskussionsrunde vorzustellen (alle 2 Monate debattieren wir in der schönen Bar 439 im Hamburger Schanzenviertel über 3 relevante Kriminalromane, mehr Infos auf www.talk-noir.de). Die beiden Kollegen, mit denen ich das mache (1 Buchhändler, 1 Verleger), haben ganz ähnliche Ansprüche ans Genre wie ich, und ich war mir sicher, das Buch würde sie genauso im Sturm erobern.
Aber weit gefehlt! Ich bekam stereo heftigen Protest an die Backe – natürlich argumentativ, das ist der Stil der „Noir.au Bar“-Abende, aber die sorgsam belegten Argumente erwischten mich unvorbereitet. Es ging um den Plot: Mühsam hingebogen sei er, stellenweise durchhängend mit haarsträubenden Zufällen und Konstellationen jenseits der Glaubwürdigkeit. Jeder hatte Beispiele. Und das Ende missfiel beiden.
Ich geriet in Zwiespalt. Ich finde das Buch großartig und will es feiern, empfehlen, verteidigen. Ich finde zugleich, meine Mitstreiter haben irgendwie auch recht – was sie anführen, lässt sich nicht leugnen. Das Ende – nun ja, ein Ende, wie es sich nach dem Showdown anbietet, vielleicht kein großer Wurf, aber auch kein Griff ins Klo. Zugegeben, es gibt leicht willkürliche Wendungen, ach ja, stimmt schon. Ja, im Kleinen wohl auch Ungereimtes, nennen wir es minderschwere Plausibilitätszumutungen. Aber mal ehrlich – was juckt mich das, wenn der Ton stimmt, das Tempo rund läuft, die Figuren mich in Bann schlagen? Wenn ich als Story die Art von Realismus vorfinde, die mir ein Herzensanliegen ist – glaubwürdige, widersprüchliche, interessante Menschen im Ringen mit der täglichen Scheiße, während verdeckt noch üblere Scheiße läuft, die sie aufdecken müssen? Wenn das Ganze hochdramatisch und doch lakonisch ist, dunkel und witzig, kurz: mitreißend hardboiled … (hab ich schon erwähnt, dass ich hardboiled innig liebe, seit ich 11 bin?)
Mich beschleicht wieder mal der Verdacht, dass mir Plotfragen einfach nicht so wichtig sind. Viel, viel mehr bedeuten mir nun mal Schreibweise und Blickwinkel auf die Welt, handelnde Personen, Milieu und Stimmungen, Stilistik und Charisma. Das sage ich auch und handele mir erschrockene Seitenblicke ein – darf ich als Krimiverlegerin und -lektorin einfach verkünden, dass mir der Plot eher wurscht ist? Disqualifiziert mich das vielleicht?
Trotzdem
Meinen (wirklich, ganz ehrlich!) hochgeschätzten Mitdiskutanten werfe ich an den Kopf, dass sie argumentieren wie patriarchale Erbsenzähler. Seht ihr denn nicht, dass hier ein kostbarer Kulturbaustein vorliegt, ein buchförmiger kleiner Befreiungsschlag für den deutschsprachigen Krimi, der sich doch so dringend aus den Niederungen des Biedersinns herausentwickeln und vom leidigen Schema-Gehäkel emanzipieren muss? Spürt ihr denn nicht das gewaltige Potenzial dieser Autorin, die Courage ihrer Schreibe, die Befreiung vom spießigen Muff?
Die Kollegen, das muss ich dazusagen, haben an diesem Abend zwei Bücher vorgestellt, die ich ebenfalls liebe, von zwei ganz großen anglophonen Genre-Autoren, nämlich Garry Disher: „Bitter Wash Road“ und Ken Bruen: „Füchsin“. Mag sein, dass diese beiden etwas feiner gekämmte Plots haben als „Messertanz“. Mag auch sein, dass die Messlatte da enorm hoch liegt, zumal für ein Debüt.
Aber ich verteidige meine Wahl, zumal ich noch eine leicht andere Vision im Kopf habe als die Jungs: Ich möchte großartige Kriminalliteratur mit feministischem Einschlag. Ich möchte Hardboiledkrimis und Noir-Romane von Frauen, in denen Frauen vorkommen oder vielmehr Menschen allerlei Geschlechts mit all ihren Nöten und Krisen, nicht bloß der klassische Männerreigen. Weil nämlich der patriarchale Blick, genau wie der koloniale, die herrschende Perspektive ist, die immer und überall als Normalität gelten darf, und zugleich genau die Herrschaftsperspektive, die die Welt in die Scheiße reitet. Was übrigens Ken Bruen, der alte Zyniker, und Garry Disher, der alte Romantiker, durchaus auch wissen, wie praktisch alle meine Lieblingsautoren, und in ihren Romanen immer wieder durchblitzen lassen. Doch das reicht mir noch lange nicht. Ich will, dass kühn schreibende Frauen ihren gerechten Anteil an der literarischen Weltsicht erobern, im Genre und überhaupt. Und für mich gehört Katja Bohnet zu denen, die daran mitwirken können. Erst recht, wenn sie mit jedem Buch besser wird, wovon ich schon mal ausgehe.
Also, an alle: Bitte lest „Messertanz“ und findet heraus, was euch mehr bedeutet: ein restlos aufgeräumter Plot oder echtes hartgesottenes Charisma. Ich wähle das Charisma.