Die Diskussion läuft falsch. In Freiburg wurde ein junger Afghane festgenommen, weil er in Verdacht steht, eine junge Frau vergewaltigt und ermordet zu haben. In den sozialen Netzwerken tobt die Diskussion. Die Vernünftigen sagen, dass ein solcher Sexualmord nicht einer Gruppe zur Last gelegt werden darf, nämlich den Geflüchteten, die wir hier aufgenommen haben.
Viele erliegen der Versuchung, die Tat irgendwie erklären zu wollen. Einige glauben, mit mehr Aufmerksamkeit hätte sie verhindert werden können. Aber das geht alles nicht. Solche Taten sind Einzeltaten einzelner (und sehr weniger) Männer, und es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass sie an Nationalitäten oder Lebenserfahrung geknüpft seien oder vom familiären oder sonstigem Umfeld hätten im Vorfeld erkannt und verhindert werden können.
1985 wurde in Bochum eine Freundin von mir von einem Triebtäter (wie man damals noch sagte) ermordet, nachdem er vorher zwei weitere junge Frauen ermordet hatte. Die eine überfiel er in ihrer eigenen Wohnung, die zweite riss er vom Fahrrad, die dritte – meine Freundin – lockte er mit den Worten, ihr ein Geheimnis zeigen zu wollen, auf eine Waldlichtung an einer Autobahn von Bochum. Dieser Mann war Deutscher. Er hatte in seiner Jugend einen Jungen ermordet, war dafür mit einer Jugendstrafe in den Knast gekommen, hatte sich dort überlegt, wie er in Zukunft seinen Trieb bekämpft, hatte keine Hilfe bekommen, wurde zwangsläufig entlassen und hat damit angefangen, Frauen zu klassifizieren. Er hat sie tagelang beobachtet, um sie „auszuschließen“ und Listen angelegt, mit dem Ziel, sie nicht ermorden zu müssen. Zwei seiner Taten geschahen dann spontan. Die erste war seine Nachbarin, die sich im Fenster gegenüber einen Pullover über den Kopf zog. Das war der Auslöser. Er ging hinüber, bedrohte sie mit dem Messer, vergewaltigte und erstach sie und beseitigte die Leiche. Ihr Freund tat ihm leid, der dann seine Freundin suchte. Die zweite sah er, als er mit dem Auto herumfuhr, auf dem Fahrrad. Danach überzeugte er seine Mutter, das Auto abzuschaffen, um weniger in Versuchung zu kommen.
Meiner Freundin, Anke K., ist er in Bochum auf der Präparatorenschule begegnet. Sie konnte er nicht ausschließen. Er hat sie in den Wald gelockt und mit dem Messer auf sie eingestochen. Ankes Mutter war es damals sehr wichtig, festzustellen, dass er sie nicht auch noch vergewaltigt hatte. Nach seiner Aussage – ich habe sein Geständnis gelesen – war er zwar erregt, aber es war ihm zu viel Blut. Anke hat sich gewehrt, es ist ihr gelungen, ihm das Messer wegzunehmen und ihn an der Hand zu verletzen, aber sie konnte das Messer nicht behalten. Er hat es zurückerobert und zugestochen. Vierzehn Tage lang suchten die Geschwister und Brüder in Bochum nach ihrer Schwester. Dann wurde im Wald nahe der Autobahn ihre Leiche gefunden. Der Mörder hatte sich die verletzte Hand selbst genäht. Die Polizei befragte alle aus ihrem Umfeld, auch ihn und nahm ihn schließlich fest. Er nannte die Orte, wo die anderen Leichen versteckt waren.
Ich habe mich damals monatelang gefragt, was sie hätte tun können und müssen, um ihm zu entgehen. Sie hätte nicht mit ihm gehen dürfen, aber solche Männer besitzen zuweilen Charme und eine gute Überredungskraft, und sie war arglos. Niemals hätte sie einem Mann folgen dürfen, der ihr im Wald etwas zeigen will, aber nicht sagt was, der also mit einem Geheimnis lockt. Und wenn sie Judo gekonnt hätte, hätte sie den auf ihr sitzenden Mann abwerfen können. Judo erlaubt immer auch den Bodenkampf, nachdem frau überrascht und zu Boden gerissen wurde.
Und über die Fehler oder Schwächen der Justiz habe ich auch viel nachgedacht. Niemals hätte man einen jungen Mann, der bei Sexspielen einen 12-Jährigen ermordet hatte, ohne Behandlung in die Gesellschaft entlassen dürfen. (Aber unsere Justiz lässt gar nichts anderes zu.) Seine Mutter, bei der er lebte, hatte vermutlich keine Chance mitzukriegen, was ihr Sohn tat, wenn er herumfuhr. Er hatte sich vermutlich die Präparatorenschule auch ausgesucht, weil er dort mit Totem (toten Tieren) umgehen konnte. (Nachtrag, 2.9.2021:) Er soll aber den Mitschüler:innen schon unangehem aufgefallen sein, weil er sichtlich erregt war beim Präparieren toter Tiere.
Ich habe nie gewusst, wer es war. Ich habe seinen Namen zwar in einem Klatschblattartikel gelesen, ihn aber nicht behalten. Ich habe mich für den Täter nicht sonderlich interessiert. (Sehr wohl aber für Serienkiller und die Mechanismen ihrer Psyche und ihrer Taten.) Meine Wut und meine Rachefantasien haben sich schnell verflüchtigt. Ich habe, wie viele, die einen Menschen, den sie mochten, durch Mord verlieren, gewusst und empfunden, dass der Tod des Täters die Tat nicht ungeschehen macht, dass nichts, was ihm passiert oder nicht passiert, irgendeinen Einfluss auf das Geschehene hat und auf das, was die Familie im Anschluss an die Tat durchmacht. Ankes Mutter starb zwei Jahre nach der Tat an Krebs. Auch ihr Tod war ein furchtbarer Verlust für mich, denn wir waren eng befreundet. Ich habe heute den Eindruck, dass sie es ihrer jüngsten Tochter (sie hatte fünf Kinder) nie so recht verzeihen konnte, dass sie so arglos gewesen war. Und es war ein zutiefst verletztes und schmerzliches Nicht-verzeihen-können. Ankes Tod war eine Tragödie für die Familie.
Eine spätere Recherche (fast dreißig Jahre nach der Tat) hat mich zu diesem Text geführt, in dem ein Berufsschüler erwähnt wird, der im Sommer 1985 in Bochum und Bonn drei junge Frauen ermordet hat. (Ich nenne hier den Namen nicht*) In dem Text wird auch eine Aussage von ihm zitiert, die beschreibt, warum er Frauen unter seine Kontrolle bringen und töten wollte**. Er ist einer von den Männern, die eine perverse Sexualität haben, die stark an Objektivierung, Entmenschlichung und die Kontrolle von Frauen geknüpft ist. Solche Männer gibt es glücklicherweise selten, aber es gibt sie. Und es hat keinen Sinn, ihre Taten auf eine Gruppe anzurechnen. Sie sind niemals typisch für eine Nationalität. Sie sind höchstens typisch für ein Geschlecht, nämlich das männliche. Aber weil sie wirklich so selten sind, wäre es eben auch extrem unfair, das männliche Geschlecht dafür verantwortlich zu machen, dass es in ihm Exemplare gibt, die die Unterwerfung und Kontrolle von Frauen so extrem betreiben, dass sie sie töten.
Deshalb läuft die Diskussion völlig falsch. Der Mord an der Freiburgerin hätte durch nichts verhindert werden können, was die Gesellschaft vernünftigerweise tut. Niemand kann in den Kopf eines Mörders hineinschauen. Niemand die Taten vorhersehen. Was auch für Amokläufer gilt. Ein solcher furchtbarer Mord lässt sich aus nichts als einer individuellen Abartigkeit erklären. Niemand, außer ihm selbst, hat irgendeine Schuld an der Tat. Es gibt keinerlei Mitschuld von irgendwem. Wir haben keine Chance, Mörder und Massenmörder zu identifizieren, bevor sie ihre Taten begehen. Auch wenn wir im Rückblick meinen, man hätte es erkennen können. Im Rückblick gibt es „hätte“ und „wäre nicht“, aber die täuschen eine Kausalität vor, die es hier nicht gibt.
Das wollte ich jetzt hier einmal sagen, obgleich ich über diesen Mord an meiner Freundin Anke bisher noch nie öffentlich gesprochen und davon auch nur wenigen Menschen erzählt habe. Die Diskussion im Netz über den Freiburger Fall müsste auch nicht so falsch laufen. Bei den Mengen von Krimis, die wir so konsumieren, müsste uns allen klar sein: Serienkiller und Sextäter sind Ausnahmen, und es gibt sie in jeder Gesellschaft. Würde man sie als beispielhaft für eine Gruppe sehen wollen, so müsste man in letzter Konsequenz sagen: Schützt uns Frauen vor den Männern. Weist die Männer aus. Aber das wäre eben auch falsch.
Nachtrag 30.Juni 2021: Ein ehemaliger Jugendfreund Ankes hat mich gerade angerufen und auf diesen Text einer Mitschülerin Ankes aufmerksam gemacht. Sein Titel lautet: Anke Regina Klünder oder warum ich feministisch wurde. Ich danke dir, liebe „rattencomics“ für deine Erinnerung und deinen Schwur.
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*Es hat auch deshalb keinen Sinn, weil er in den Texten von Stephan Harbort, in denen er auftaucht, unterschiedlich heißt, mal Hans-Joachim Schott, mal Hans Dieter Schell oder Klaus-Dieter St. Er heißt übrigens Hans Dieter Schell.
**Zitat: „Den meisten Tätern geht es bei ihren Verbrechen nicht nur um Sexualität im engeren Sinne. Sie gieren vielmehr nach vollkommener Kontrolle über ihre Opfer, ergötzen sich an deren Leiden. Sexuelle Handlungen werden vielfach lediglich instrumentalisiert, sie sind die intimste Form der totalen Bemächtigung. Von solchen Phantasien wurde auch der Berufsfachschüler Hans Dieter S., der 1975 in Oldenburg ein 12-jähriges Mädchen und nach seiner Entlassung aus der Haft in der Zeit vom 2. Mai bis zum 26. August 1985 in Bonn und Bochum eine 16-jährige sowie zwei 18 und 28 Jahre alte Frauen erstach und verstümmelte, beherrscht. Seine Vision: „Ein alleinstehendes Haus und ein im Keller gefangengehaltenes Objekt. Das Besitzen eines Objektes steigert die sexuelle Lust. Ich stoße dem Objekt das Messer ins Herz und zerschneide es mit Rasierklingen. Dann das endgültige Besitzen, der Tod.“ Ohnmacht des Opfers gleich Allmacht des Täters.“
Hallo liebe Christine, der Artikel in dem es unter anderem um Anke K. geht, hat mich sehr aufgewühlt. Ich wohnte bis kurz vor Ankes Umzug nach Bochum ein paar Jahre auf Baltrum ( im Inselhaus und später im Upstalsboom) bis Anke nach Bochum zur Ausbildung ging und ich begann mein Studium in Braunschweig. Ich war eng mit ihr verbunden und habe damals im Haus der Familie K. gearbeitet als die Ferienwohungen gebaut wurden und Frau K.rüberwiegend am Festland war . Mich hat jahrelang beschäftigt was genau geschehen ist, ich hatte die Zeitungsartikel gelesen und alles soweit verfolgt aber ich hatte keinen Kontakt mehr nach Baltrum, da ich ja dann in Braunschweig war. Durch diesen Artikel hier wird mir nun einiges etwas klarer. Es war so schrecklich alles , die heile Welt von Baltrum zu verlassen und dann gleich dieses schlimme Schicksal erleiden zu müssen. Ich habe auch nicht mit jemandem darüber sprechen können, da ich ansonsten nicht viele Berührungen nach Baltrum hatte.Ich möchte hier nicht viel in der Öffentlichkeit ansprechen. Vielleicht können wir einmal miteinander ( per Mail) kommunizieren, da mich dieses Geschehen eigentlich mein Leben lang verfolgt. Ich habe noch schöne Fotos aus der Zeit mit Anke bis zu Ihrem Weggang .Wer auch immer zu diesem Thema mit mir in Kontakt treten möchte kann das gerne tun. Wie schön zu wissen, das Anke in Euren Herzen genauso lebt wie in meinem .Inse
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Liebe Inse, vielen Dank für dein Kommentar. Auch eine andere Person hat sich mit mir in Verbindung gesetzt, auch sie konnte bislang mit niemandem darüber sprechen, und es hat uns beiden gut getan, uns darüber per Mail auszutauschen. Ich würde mich freuen, wenn du mir eine private Mail schreibst. Gehe dazu auf meine Seite „Christine Lehmann – Autorin“ und dort auf Kontakte. Da findest du meine E-Mail-Adresse. (https://christine-lehmann.blogspot.com/)
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Hallo Christine, mein Bruder und ich kannten Anke recht gut. Wir und ich waren, als wir über deren Ermodung in der WAZ gelesen haben, zutieftst schockiert. Und ich räume ein, das alles hat mich nie losgelassen. Obwohl es sich bereits 1986 ereignet hat. Ich habe immer wieder im Netz nach weiteren Informationen über ihren Tot und den Prozess gesucht, bin aber nur teilweise fündig geworden.
Wir haben damals Anke und ihre Familie auf Baltrum kennengelernt. Wir war dort erst mit unserer Familie. Später sind mein jüngerer Bruder und ich mit dem Rad dorthin gefahren, zumindest teilweise, um die Sommerferien dort zu verbringen. Es war eine schöne und unbeschwerte und auch abenteuerliche Zeit. Wir haben auf dem Zeltplatz übernachtet, waren regelmässig im „Jugendclub“ und natürlich auch mit Anke zusammen. Sie hatte mir nach unseren Besuchen noch per Post in einem Brief eine präparierte Maus geschickt.
Wir haben auch noch ein Bild von Anke, wo sie eine von meiner Mutter gestrickte Wolljacke trägt. Wir waren Kinder, zumindest aber sehr jung. Ich werde es nie vergessen, wie wir nach den Sommerferien von unseren Insel-Freunden und auch Anke am Kai verabschiedet wurden.
Anke auf ihrem Pferd ohne Sattel.
LG C
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Danke, Carsten, für deine Worte und für deinen Anruf bei mir und die Informationen, die du mir noch gegeben hast. Auch nach so vielen Jahren sind Baltrum und Anke Klünder mir noch sehr präsent.
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Ich kannte Doris.
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Danke für den Text, eine Stimme der Vernunft und Emotion. Es ist unerträglich, dass
jetzt einige diese schreckliche Tat für Stimmungsmache in ihrem Sinne nutzen.
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