In den Feuilletons gelobt und mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet beginnt Heinz Strunks Roman mit dem Zitat eines Sadisten – verantwortlich und verurteilt für vier Morde an Jungen. Zuallererst erhält also ein Täter das Wort, dem ein zweifelhafter Ruhm hinterher eilt. (Jürgen Bartsch starb ironischerweise an einem Narkosefehler während seiner Kastration. Auf anästhesiologische Fachkompetenz hatte der Operateur verzichtet, obwohl es die 1976 schon gegeben haben soll. Eine Schelmin, die hier megalomane Selbstüberschätzungen mit Todesfolge an den unterschiedlichen Enden der Gesellschaft vergleichen wollte.)
Um Anerkennung und Ruhm geht es auch Fritz Honka, genannt Fiete, wenngleich ihm klar ist, dass er gegen Hitler oder Stalin ruhmmäßig nicht anstinken kann, Jack the Ripper eignet sich eher zur Identifikationsfigur. Als sich Honka an der Glorie seines Tötens berauscht, ist er, der später, 1976, zu 15 Jahren Haft wegen Mordes und Totschlags verurteilt wird, längst moralbefreit vom psychischen und physischen Verfall durch seine Trunksucht gezeichnet. Viel an moralischen Standards hatte er sowieso nicht mitbekommen – ein Kriegskind, das Vernachlässigung und exzessiver Gewalt ausgesetzt war, die sichtbare Residuen nach sich zogen – die deformierte Nase, das schielende Auge, der hinkende Gang. Demütigung und neue Gewalt begleiten sein Leben. Nicht verwunderlich also, dass ein Mensch mit einem inkonsitenten, fragilen Selbst die Flucht in die Sucht antritt und seiner Impulse nicht Herr wird. Heinz Strunk charakterisiert die Figur des Honka genau und plausibel. Das Milieu, in dem er agiert, ist das der Ausgestoßenen und Verzweifelten. Sie hängen in der 24-Stunden-

Gegenüber vom „Goldenen Handschuh“
Kaschemme „Der goldene Handschuh“ in Hamburg St. Pauli ab, auf der Suche nach dem kleinen Glück oder dem endgültigen Absturz oder dem Tod, den so manche*r herbeisehnt, um diesem Nichtleben zu entkommen. Die Atmosphäre ist finster, verdreckt und gefährlich. Da gibt es die „Schimmligen“ in den Hinterzimmern, die weit schlimmer dran sind als „Leiche“. „Leiche“ lebt zwar noch, aber nicht sehr. Er säuft wie Soldaten-Norbert und all die anderen. Und wie Karl aus der heruntergekommenen Reeder-Familie, die sich einst jüdisches Vermögen unter den Nagel riss und dafür von der Hamburger Society geschnitten wird. Karl ist ebenso versoffen und sadistisch wie Fiete, nur mit Geld. Zwingend und genau stellt der Autor die innere Leere seiner Figuren dar – kaum zu ertragen, für niemanden, mit und ohne Geld nicht. Daneben windet sich der Handlungsstrang mit dem erbgeschädigten und selbstunsicheren Spross der Reeder-Familie, der auch keine Schnitte bei den Frauen kriegt, durch den Roman. Die Lebenswege nähern sich, ohne sich zu berühren, in einem Milieu, wie es entgrenzter und hoffnungsloser kaum sein kann.
Das ist alles sehr gut gemacht. Nur stellt sich die Frage: Wozu?
Da ist die Geschichte von geschundenen Männern, die gewalttätig werden. Die Frauen sind vorwiegend Opfer mit den zugehörigen Selbstattribuierungen, abgesehen von Gisela. Die ist Heilsarmee und bei Gott. Die einzige Frauenfigur, die es in ein halbwegs lebbares Leben geschafft hat, ist dort angekommen, weil sie sich religiös und sozial organisiert. Alle anderen, Frauen wie Männer, sind ihrer Sucht, ihren Impulsen und ihrer Geilheit ausgeliefert. Leitet sich daraus die Konsequenz ab: Wandle auf Gottes Pfaden und ER wird dir Heil bringen? Dir so als Frau? Denn die Männer sind samt und sonders des Teufels, Honka vorneweg, wenn man Spiegel online glauben möchte:
„Wenn etwa Honka einen neuen Job als Nachtwächter in der City Nord beginnt und man darauf hofft, er würde es ordentlich machen [ …]. Spätestens dann hat man offenbar vergessen, welch einer Bestie man aufsitzt.“
Aha, die Bestie also. Die Bestie kennen wir schon aus unzähligen mehr oder meist minder gelungenen Romanen. Nun beschreibt Strunk seinen Honka nicht eindimensional, durchaus nicht. Das macht die Qualität des Textes aus. Dennoch bleibt er im Roman, was seine reale Vorlage war: Ein devianter Gewalttäter, wie er in jeder Gesellschaft anzutreffen ist. Um ihn in seinem Biotop zu beobachten, müssen sich die Leser*innen in Strunks Sozialzoo begeben. Das ist nicht immer unkomisch. Aber Mitgefühl mit diesen körperlich und seelisch verwahrlosten Menschen kommt kaum auf, eher wird der Voyeurismus angesichts des Exzessiven, Ekelhaften, ganz und gar Verrohten und Verkommenen bedient.
„Das Buch analysiert nichts, dazu ist es genauso ohnmächtig wie seine Opfer, distanziert sich aber auch nicht von ihnen, und es leistet sich ihnen gegenüber auch nur so viel Empathie, wie nötig ist, um zu erkennen: Brauchst gar nicht wegzuschauen, das könntest nämlich genauso gut auch du sein.“, schreibt die Süddeutsche Zeitung.
Ähm, nee. Um „so“ zu sein, bräuchte „ich“ ein paar biographische Brüche mehr und eine ordentliche Persönlichkeitsstörung neben dem Schnaps. Aber das „du“ bezieht sich gewiss nicht auf Frauen … puhh, da haben wir mal wieder Schwein gehabt. Empathie entdecke ich bestenfalls für den Täter. Er bekommt nämlich den Raum, der seinen Opfern fehlt. Und dass Ruth Schult, eine der Getöteten und Verstümmelten, in Ruth Schuld umgetauft wird, verstehe ich, gelinde gesagt, als unfreundliche Geste, falls es nicht das Ergebnis einer unklaren Quellenlage ist.
Um auf die Frage der Themenwahl zurück zu kommen: Christine Lehmann fragt in ihrem Beitrag hier auf Herland, weshalb ein Roman, der die Figur eines Serienmörders in den Mittelpunkt stellt, mit einem hochdotierten Literaturpreis gewürdigt wird. Ich kann die Frage auch nach der Lektüre nicht beantworten.
Der Autor schreckt nicht davor zurück, sich selbst in die Hölle zu begeben, denn das muss er getan haben, während er die historischen Ereignisse recherchierte und zu diesem krassen, trostlosen und exzellent erzählten Roman verwob – die Dialoge sind irre und stellenweise irre komisch, die Atmosphäre ist dunkelschwarz. Nur der Herr Honka. Der ist ein Mann, der Frauen vergewaltigt, verdrischt und tötet. Sowas gibt’s. Ausmaß und Darstellung nennt Anne Goldmann Sozialporno.
Zum Vergleich: Frank Göhres „Kiez-Trilogie“ ist ebenfalls in Hamburg St. Pauli angesiedelt. Der Roman ist serienkillerfrei, aber durchaus mit deformierten Charakteren bevölkert, denen man tatsächlich Mitgefühl entgegenbringen kann, weil sie Göhres – Chronist der Benachteiligten – exakter Kenntnis der Umstände von Ort und Zeit entspringen.
Oder etwa Liza Codys „Lady Bag“ – die Geschichte einer Obdachlosen, die genau wie Strunks Figuren am unteren Ende der Sozialskala angekommen ist, die sich durchschlägt, trinkt, knapp am Irrsinn vorbeischrappt – einer Frau, deren Leid man nicht besichtigt, sondern die uns teilhaben lässt an ihrem Leben, obwohl das eigene, Gott sei Dank, ein besseres ist.
Das sind Kriminalromane und das ist natürlich ganz etwas anderes als richtige Literatur: „Strunk erzählt diese Kriminalgeschichte, ohne ein einziges Mittel des Krimis zu gebrauchen.“, um noch einmal Spiegel online zu zitieren. Soso, ein Kriminalroman darf es dann also keinesfalls sein, wenn ein Text gut geschrieben ist.
Ehrlich gesagt, will ich keine Serienkillergeschichten mehr, völlig gleichgültig wie sehr sie auf Tatsachen zurückgreifen und wie bestechend sie erzählt sind. Sie berichten nur, dass es schlimme Gewalt gibt von Menschen, die schlimme Gewalt erfahren haben und/oder über die passende genetische Folie verfügen. Nichts anderes tut auch „Der goldene Handschuh“. Aber das weiß ich schon.
Heinz Strunk, Der goldene Handschuh, Roman, Rowohlt Hamburg, 2016, 256 Seiten, 19,95 Euro
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