Einmal „Girl des Tages“ sein und dann sterben

Aus der Reihe: Birgit und ich

Seit Monaten, oder Jahren?, also Äonen in der Zeitrechnung virtueller Kommunikation beobachte ich das „Girl des Tages“ auf t-online.de. Jeden Tag räkelt sich ganz unten auf der Seite, wenn man sich durch Kriege, Unwetter, Hunger und Tod, durch Gesundheits- und Gartentipps, Kleidchenwerbung und Tiervideos gescrollt hat, eine hingegossene, schmollmündige, unwesentlich bekleidete Schönheit. Jeder kann sie sehen und bewundern, jeder, in der ganzen Welt.

MudndWelch ein Ruhm, dachte ich und in mir wuchs der Wunsch, endlich selbst einmal „Girl des Tages“ zu werden. Ein geheimer Wunsch, der im Verborgenen gedieh und wucherte, bis in meine Träume hinein. Einmal so viel Weib sein unter aller Augen! Also endlich meiner Bestimmung als Frau entsprechen – Schönsein und dekorativ repräsentieren. Nur wenn ich morgens nach der Dusche und vor der Arbeit an meinem Spiegelbild vorbei huschte, blitzte kurz die Realität meiner Unzulänglichkeiten auf. Die fingen am ergrauenden Scheitel an und hörten an der nachgebenden Kinnkontur längst noch nicht auf. Eines Sonntags, als ich mir Zeit und Mut nahm, der erschütternden Wirklichkeit die gefurchte Stirn zu bieten, musste ich zugeben – ich bin eine einzige Problemzone. Früher, bevor mir dieses elfengleiche Geschöpf „Girl des Tages“ aufgefallen war, gab es keine Problemzonen an meinem Körper. Problemzonen waren der Süd-Sudan oder Afghanistan. Nicht ich. Ich hatte Beine, Arme, Bauch und vor allem Kopf. Und Kleider, mit denen ich den größten Teil meines Körpers verhüllte, jedenfalls meistens und in der Öffentlichkeit. Ich fand das in Ordnung. Bis zum „Girl des Tages“. Seit ich sie kannte, schlief ich nicht mehr. Es war so toll, das Girl, und ich nicht. Ein paar Tage lang überlegte ich, einen Termin bei der Psychiaterin zu machen, wegen der Schlaflosigkeit. Ich hatte schon ihre Nummer gewählt, als mir einfiel, sie könnte auch eine Elfe, eine Femme fatale gar und selbst einmal „Girl des Tages“ gewesen sein. Ich legte auf und weinte.

Birgit klingelte nicht. Sie kam einfach über die die Terrasse herein wie immer und stellte eine Flasche auf den Küchentisch, wie immer. Birgit ist meine Nachbarin und wir machen schon mal Sachen zusammen. Roten trinken zum Beispiel.

„Was ist los?“ Sie legte ihren Kopf mit dem aschblondierten Strubbelhaar schief.

„Ich bin so hässlich.“ Ich trompete in mein Taschentuch, fasste mich ein wenig, weil sie da war, und gestand ihr meine Not.

PintchenSie goss uns zwei Pintchen voll, die sich sehr schnell leerten, füllte nach und machte: „Hm, hm.“

„Was?“

„Du kannst nicht Girl des Tages werden. Du bist alt.“

Ich heulte wieder los und sie tätschelte mir die Schulter, während sie erneut eingoss. Nachdem wir drei Rote weiter waren, machte sie noch einmal: „Hm“, weicher nun, mütterlich geradezu, sagte: „Du kennst doch Luc. Der ist jetzt mit Mona zusammen.“

„Aha.“ Ich schniefte.

„Mit Petra, sie nennt sich Mona, seit sie Girl des Tages war.“

„Petra? Echt? Die von der EDEKA-Kasse? Ist mit mir in die Schule gegangen. Luc könnte ihr Sohn sein.“

„Sei nicht so spießig. Luc ist Photoshopnerd. Außerdem braucht er ein bisschen Stabilität, wenn er Vater werden will.“

Ich verschluckte mich am Roten, hustete. „Er will … Mit Petra? Was sagt ihre Enkelin dazu?“

„In Tschechien könntest du dir die Tittis machen lassen. Ich weiß nicht, ob da mit Photoshop noch was zu reißen ist.“ Sie grinste.

„Wenn das alles wäre.“ Eine Träne tropfte in den Roten. Ich trank, Birgit füllte auf.

„Komm schon. Wir kriegen das schon hin. Jetzt üben wir erstmal Kussmund, dann mache ich ein schickes Bild von dir und du fragst Luc, was er glätten kann.“

Birgit war eine echte Freundin, obwohl sie Schlupflider, Krähenfüße und Cellulitis hatte und ihre Shorts am Hintern klemmten. Mir wurde ein wenig leichter vor Liebe. Und vom Roten. Ich nahm eine Zigarette aus der Packung, die sie mir hinhielt und paffte eine weitere Schicht Kalk in meine Coronarien. Auf der Packung stand, ich könne impotent werden. Doch nach den nächsten zwei Roten war mir das egal. Wir schwiegen eine Weile, bis ich fragte: „Was wollestu eigentlisch?“

1222xSie legte ein Buch auf den Tisch. Lady Bag von Liza Cody.

„Kennisch“, sagte ich und fühlte ein unperfektes Grinsen auf meinem Gesicht.

„Uns geht’s ganschöngut, ne?“

Ja, dachte ich. Lady Bag musste um ihren Roten kämpfen, draußen auf der Straße, allein. Ich stellte eine einfach eine neue Flasche auf den Tisch. Birgit knipste ein Selfie mit Kussmund von uns. Ich zeigte Birgit das „Girl das Tages“ auf der Website. Sie schob die Lesebrille auf die Nase und stach den Finger aufs Display. „Das sind Tittis aus Tschechien, siehste. Und die hat ja gar nix an. Ganz schlecht für die Wirtschaft.“

(Erdogan entlässt die Intellektuellen aus den Universitäten, Trump redet Hass in die Köpfe alter weißer Männer, Mittel gegen Blähungen, das Wetter regnet, das „Girl des Tages“ schmollt.)

Wir kicherten, prosteten uns zu und verschoben das Sterben auf später. Ich fand uns ziemlich okay.

 

 

Über annekuhlmeyer

1961 in Leipzig geboren, lebt im Münsterland, schreibt Kriminalromane, Geschichten und dies: Blog: https://annekuhlmeyer.wordpress.com/
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