An Zoë Beck. Neulich habe ich an dich gedacht. Du sagtest, es gäbe nur sehr wenige international bekannte Pianistinnen. Hélène Grimaud spielt ihren gerade aufgenommenen Zyklus „Water“ im Silent Green. Ich sitze oben auf der Empore und schaue runter, inmitten der Menge sitzt die Frau allein am Flügel. Von ihr geht eine ungeheure Kraft aus. Sie breitet sich aus, steigt auf zu uns und höher unter die Kuppel der Feierhalle eines ehemaligen Krematoriums. Es ist übrigens, für die Gottlosen unter uns, ein 1911 erbautes Feuerbestattungsinstitut der konfessionslosen Freidenkerbewegung. In dem Mosaik, das den Boden der Trauerhalle bildet, ist gleich am Eingang eine Schlange abgebildet. Sie stellt das Symbol der Transformation zwischen Leben und Tod dar. Die Tasten des Flügels scheinen sich unter Grimauds Händen zu verflüssigen. Alles ist Wasser jetzt, wir sind Teil einer Transformation. Später schreibt ihre Plattenfirma über diesen Abend, die Star-Pianistin hätte das Publikum mit einem „sympathisch zurückhaltenden Lächeln begrüßt“, auf „besinnliche und berührende Weise lässt sie Töne regnen“, „ihre Finger flitzen, schweben und gleiten über die Tasten“, und am Ende „tritt sie mit bezaubernder Spontaneität sogar selbst an den Synthesizer“. Wow. Schreibt man so auch über männliche Pianisten? Jetzt muss ich nachsehen. Lang Lang: „Ernsthaft“. „Konzentriert“. „Kraftvoll“. Yo, Mann!
Ich bleibe hängen an der Frage nach der Genialität. Oder auch Talent. Darüber habe ich neulich mit einer Frau diskutiert, die 20 Jahre älter ist als ich. Die sich als Journalistin und als Exotin (aus Indien) in einer weißen Männerwelt durchkämpfen musste. Sie sagt: Wenn jeder Talent hat, dann versinken wir im Mittelmaß. Sie schüttelt sich. Ich frage: Wer entscheidet darüber, was Talent ist? Wer gefördert wird? Mein damals noch junger Kunstlehrer hat Mitte der 80er tatsächlich noch behauptet, Männer hätten mehr Talent in der Malerei, warum gäbe es sonst so wenig Malerinnen in der Kunstgeschichte. So. Fertig. Kunstunterricht, Oberstufe. Sie sagt: Hörst du das nicht? Wir sitzen in einer gutbürgerlichen Hamburger Altbauwohnung. Nebenan irgendwo übt seit Stunden jemand am Klavier. Wir sind uns einig, dass man durch die Wand hören kann, dass dieser Jemand kein Talent hat. Furchtbar. „Mittelmaß ist middle class“, sagt sie.
Eine mögliche Antwort auf meine Frage finde ich auf der Website von Pro Quote, einer Initiative von mittlerweile über 300 Filmregisseurinnen, deren Forderung schlicht 50:50 bei der Verteilung aller öffentlichen Gelder lautet. Die Regisseurin Jutta Brückner sagte in ihrem Impulsvortrag zur Berlinale 2016: „Zu viele Entscheider und auch Entscheiderinnen sind bei einem direkt ausgestellten männlichen Ego zu schnell davon überzeugt, dass es sich hier um ein Genie handeln muss. Dieser Glaube verteilt sich in unserer Aufmerksamkeitsökonomie dann wie ein Buschfeuer und generiert die Art von Beachtung, ohne die man nicht dauerhaft arbeiten kann. Denn Teil der Gesellschaft zu sein, heißt heute, Teil dieser Aufmerksamkeitsökonomie zu sein.“
Diese These möchte ich jetzt weiterspinnen: Welchen Platz räumt uns denn diese Aufmerksamkeitsökonomie ein, wenn sie uns überhaupt einen zugesteht? Frauenabteil, Frauenparkplatz, Frauenquote, Frauenliteratur. Zumindest nicht die Kriminalliteratur, die es in die Feuilletons und die Bestenlisten schafft. Der man Relevanz zugesteht. Die als Realismuskonzept, als persönliche und politische Haltung gegenüber der Welt verstanden und nicht als Beruhigungsmittel abgetan wird.
Auf der Rückfahrt von dem Klavierkonzert sagt meine Freundin, dass es ihr am besten gefallen hat, als Grimaud voller Wut und Kraft den Flügel bearbeitet hat. Nicht das Leise, das Zarte. Sie sagt es fast entschuldigend.