Später Abend. Ich sitze so rum in meinem geordneten mitteleuropäischem Leben, knabbere riskante Lakritz (mit lebensgefährlichem Zucker!) und gucke Nachrichten. Ich bin ein bisschen müde. Die Nachrichten bringen nie was Gutes, abgesehen von den Fußballergebnissen und dem Wetter. Die Sprecherin sagt, in der Wüstenstadt Palmyra sei ein Massengrab mit mindestens 40 Leichen gefunden worden, darunter auch Frauen und Kinder. Ich bin müde, aber an dieser Formulierung hake ich fest. Darunter auch Frauen und Kinder. Grausam der Terror des sogenannten „Islamischen Staates“, dem so viele Menschen zum Opfer gefallen sind. Und das Töten nimmt kein Ende. Aber warum muss der Tod von Frauen und Kindern besonders betont werden? Diese Herausstellung ist mir schon öfter aufgefallen. Kinder, okay, das verstehe ich. Sie hätten ihr gesamtes Leben vor sich gehabt. Kinder sind die Zukunft und der Fortbestand unserer Spezies. Aber Frauen? Macht der Tod einen Unterschied im Geschlecht? Ist die Schuld der Täter größer, wenn sie Frauen morden?
Mein erster Sohn kam im Osten und im Kalten Krieg zur Welt. Der zweite Gedanke, nach der Freude, dass es ihn nun gibt, war: Er muss zur Armee, in einen Krieg womöglich, in dem er sterben kann. (Damals hatte ich noch die Idee, dass in Kriegen vor allem Soldaten sterben, eine völlig einseitige Betrachtung, die sich an der deutschen Geschichte orientierte, s. Bevölkerungspyramide.) Nun, das ist nicht passiert, zumindest nicht in Deutschland. Stattdessen wechselte das Gesellschaftssystem, Ländergrenzen verschoben sich oder wurden, kriegsbedingt (man erinnere sich an Jugoslawien), neu gezogen. Nach Schätzungen starben über 120 000 Menschen während der „Jugoslawienkriege“ – Frauen, Männer und Kinder. Der Anteil der Toten in der Zivilbevölkerung war immens. Viele Menschen blieben vermisst. Aber sie sind nicht einfach weg, sondern liegen vermutlich noch unentdeckt in Massengräbern.
Palmyra. Ein anderes Massengrab, aus einem anderen Krieg. Darinnen Frauen, Männer, Kinder.
Weshalb der Tod von Frauen und Kindern besonders erwähnt wird, verstehe ich nicht. Stehen sie unter Schutz? Wohl eher nicht, schaut man die Realität an. Vielmehr wird die Notwendigkeit von Schutz häufig behauptet. Da gibt es nämlich noch dieses „Frauen und Kinder zuerst“, so als würde ihre Rettung im Katastrophenfall Vorrang haben. So ist es nur nicht. (Hier ein Filmchen aus der Seenotrettung.) Indem jedoch eine besondere Schutzbedürftigkeit von Frauen, die Kinder nehme ich an der Stelle aus, weil deren Schutzbedürftigkeit selbstverständlich ist, behauptet wird, befinden sie sich in einer Opferrolle bevor eine Katastrophe eingetreten ist. Also quasi immer?
Interessanterweise werden Frauen und Kinder in einem Atemzug genannt. Nicht etwa Frauen und Männer, was mehr Sinn ergäbe, würde man ihrem Status als Erwachsene und damit als Verantwortliche für soziales Leben Rechnung tragen.
Es ist nicht ganz sauber, psychoanalytisches Denken, das für individuelle Prozesse benutzt werden kann, auf soziale anzuwenden, trotzdem sei es an der Stelle modellhaft erlaubt. Geht man davon aus, dass es erforderlich ist, die Dyade, die die Bezugsperson (meist die Mutter) während der ersten ein bis zwei Jahre mit dem Kind eingeht, zugunsten der Triangulierung gelöst werden muss, um eine ungestörte Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen, d.h. die Neugier auf die Welt und den Mut für ihre Erkundung, zu unterstützen, verhindert man diesen Schritt, indem man Frauen-und-Kinder zusammendenkt. Damit wird eine Abhängigkeit geschaffen, wie sie im Individuellen und im Erwachsenenalter bei entsprechender Vorgeschichte als Angststörung oder Abhängigkeit von Stoffen/Verhalten bekannt sind. Übertragen wir diese Hypothese (im Psychologischen ist alles erstmal Hypothese, weil das Leben, auch das Innenleben, viel zu komplex ist, als das man daraus „harte Wahrheiten“ ableiten könnte) aufs Soziale, wundert es nicht, dass Frauen sich selbst nicht selten in einer abhängigen, scheingeschützten und victimisierten Rolle verstehen.
So eine verräterische, kleine Floskel – darunter auch Frauen und Kinder – denke ich. Und was ist mit den Männern? Mit den Vätern und Liebsten, den Brüdern und Söhnen? Sie sind auch tot. Verscharrt in jenem Massengrab in Palmyra. Und in so vielen auf dieser Welt.
Ich schalte den Fernseher aus, gieße Rum ins Glas, hier in meinem mitteleuropäischen Wohlstand, und trinke auf das Leben, das die Frauen, Männer und Kinder, ermordet für Macht und Land, einmal hatten. Ich finde, wenigstens im Tod sollte Gleichberechtigung herrschen.
Hallo Anne,
vielen Dank für deinen Text. Auch mir ist die Formulierung „darunter auch Frauen und Kinder“ nicht so ganz klar. Ich meine, ein Mörder wird doch nicht allein deshalb härter bestraft, wenn er statt eines Mannes eine Frau ermordet, oder?
Vielleicht sollte man in Gedanken immer ein „und Männer“ ergänzen, wenn man auf diese Formulierung stößt: „Es kamen 200 Menschen ums Leben, darunter auch Frauen, Kinder und Männer“.
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Hallo Hannes,
genau, „Menschen“ würde genügen. Es ist keine Differenzierung nötig für das Grauen des Todes.
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Liebe Anne, herzlichen Dank für diesen klugen Beitrag. Genau das Gleiche geht mir schon seit Langem durch den Kopf. Für mich klingt die Formulierung immer wie: eigentlich waren bei dem Anschlag/Krieg/WasauchimmerfürGewalt Männer gemeint, versehentlich hat’s aber auch ein paar Frauen und Kinder erwischt, die – zynisch gesagt – doch eigentlich gar nicht „mitspielen“ (dürfen/sollen). Terror und Kriege scheinen für „große Jungs“ zu sein, was – mal wieder – ein deutliches Licht auf die Machtverteilung und Geschlechterverhältnisse nicht nur in unserer Gesellschaft wirft. Womit ich selbstverständlich nicht sagen will, dass es ein unverzichtbares Zeichen von Gleichstellung ist, an Kriegs- und Terrorhandlungen teilzunehmen – das tun Frauen ja längst. Sondern hier wird – wie so oft – die Wirklichkeit (ich benutze jetzt mal diesen erkenntnistheoretisch schwierigen Begriff) patriarchal interpretiert. Und diese Interpretation macht nicht nur Frauen per se zu Opfern, sondern Männer ebenso automatisch wenigstens zu Beteiligten an den Gewaltakten, wenn nicht gar zu Tätern.
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Liebe Anja,
schön, dass Du uns gefunden hast!
Und danke für Deinen Kommentar!
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Vielen Dank für diesen Text. Ich stolpere auch immer wieder über diese Formulierung. Scheinbar ist der „Normalfall“ männlich.
Ich glaube, das wohl so etwas wie ein „Urinstinkt“ und hat etwas damit zu tun, dass Frauen gebären können. Klar gehören zum Kinder kriegen bnatürlich auch Männer. Aber ein Mann kann sehr viele Frauen auf einmal „beglücken“. Andersherum ist das schon schwieriger.
Nichtsdestotrotz schließe ich mich Dir voll und ganz an.
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Stark, der Frauen-und-Kinder-Diskurs. Ich polemisiere mal: Frauen und Kinder – so extra betont – sind besonders bewahrenswerte Wertgegenstände. Unsere Assoziationen werden beiläufig dahin gelenkt, ungewöhnlich ausgeprägte Barbarei zu vermuten, wo sie getötet werden. (Als wäre nicht jeder Mord und jeder Krieg barbarisch.) Und zugleich wird ausgedrückt, dass Frauen keine aktiven Mitspieler sind. Sie machen die Geschichte nicht, sondern sind wehrlose Opfer. Das ist überhaupt ganz wichtig. Denn sie sollen ja gar nicht mitspielen. Nur betroffen sein.
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Ich teile deine Wahrnehmung und dein Unbehagen über diese Formulierung. Was allerdings die Seenotrettung angeht, so würde ich meinen, hat die Konvention einen Sinn. Sie stellt sich dem Prinzip „Nur die Stärksten überleben“ entgegen und ist für mich ein humanistischer Imperativ.
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Schau mal den Link an. Das isses denn doch anders als behauptet.
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Hat dies auf Wort & Tat rebloggt und kommentierte:
Hier ein paar Gedanken zu den Nachrichten und ihren Floskeln.
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