Gestern im Heute – „Zwischen Nacht und Tag“ von Doris Gercke

 

9783455404241Doris Gercke, Zwischen Nacht und Tag, Kriminalroman, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2012, 302 Seiten, 19,99 Euro

Mit ihrem ersten Roman „Weinschröter, du musst hängen“ (1988) schuf Doris Gercke die eigensinnige Ermittlerin Bella Block, im TV bekanntlich durch die großartige Hannelore Hoger dargestellt. Die Romanreihe wie die TV-Serie sind Erfolgsgeschichten.

In diesem bislang letzten Teil der Reihe kehrt Bella Block von einer Tschechienreise nach Hamburg zurück und wird von ihrem ehemaligen Kripo-Kollegen Brunner in dessen private Nachforschungen verwickelt. Brunner ist pensioniert, aber weil er sonst nichts zu tun hat und von Gewohnheiten nicht lassen kann, beobachtet er die Menschen in seinem Viertel. Da schlendert zum Beispiel die alte Samantha zu Markt – 81 Jahre, unauffällig seit zwei Jahrzehnten, davor vom Verfassungsschutz als DKP-Mitglied beargwöhnt und mit Berufsverbot belegt. Plötzlich ist etwas mit ihr geschehen, findet Brunner und wendet sich an Bella Block. Eine Veränderung im Gang, in der Ausstrahlung. Und: Die eigentlich mittellose Frau lässt sich von einem Chauffeur umherkutschieren. Von Rehberg. Der ist neu im Viertel. Ein Soldat ohne Aufgabe, so scheint es. Doch Rehberg sucht einen Ausweg aus seinem persönlichen Dilemma, deshalb meldet er sich nicht bei seiner Dienststelle zurück, nachdem er desillusioniert und angeekelt die Arbeit bei FRONTEX aufgibt. Mit seinem Kollegen und Freund Eric will Rehberg nichts mehr zu tun haben. Die Freundschaft zerbrach an der Illusion über sie und an Erics Gewalttätigkeit gegenüber Schutzbedürftigen.

Als aber Rehberg plötzlich verschwindet, wird Clara, Pastorin und Betreiberin eines SM-Ladens im Viertel, verdächtigt, ihn ermordet zu haben. Verfassungsschutz und MAD ermitteln, durchaus gegeneinander, um die eigene Existenzberechtigung zu sichern. Ironisch geht die Autorin der Frage nach, wie notwendig ein Inlandsgeheimdienst (so nennt Brunner den Verfassungsschutz) in einem demokratischen Land ist und wie viel dieses Land es sich kosten lässt, seine Bürger zu bespitzeln, auch vor dem Hintergrund der Berufsverbotspraxis der 1970er Jahre. Block und Brunner sammeln eigene Informationen. Sie kennen sich eben aus im Kietz.

Der Roman ist 2012 erschienen. Bedauerlich, dass angesichts der Flut von Neuerscheinungen bemerkenswerte Romane eine lächerlich kurze Halbwertszeit besitzen.

„Zwischen Nacht und Tag“ wirft kleine, harte Schlaglichter auf die „Freiheit“ in einer Demokratie, in wohltuend stringenter, kühler Sprache erzählt.

Einsam und verloren tappen die Figuren in diesem Frühsommer durch Hamburg, isoliert wie auf einem Hopper-Gemälde und dennoch verbunden durch gemeinsame Aufgaben wie durch ihren von Gentrifizierung bedrohten Wohnort. Ihre Allianzen sind so brüchig und unsicher wie das Leben selbst. In der Begegnung mit der schrulligen Bella Block und ihrem fragilen Kosmos wird ein Stück bundesdeutscher Geschichte lebendig, die in unsere aktuelle Wirklichkeit hineinragt – ungeschönt, karg, melancholisch und brillant gezeichnet.

Über annekuhlmeyer

1961 in Leipzig geboren, lebt im Münsterland, schreibt Kriminalromane, Geschichten und dies: Blog: https://annekuhlmeyer.wordpress.com/
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