Das Genre, das Leben: Notiz zum „weiblichen“ Blick

Schon seit Hammett und Chandler ist das Krimigenre die Erzählung der ungeschminkten Realität, es thematisiert Unrecht, Gewalt, Konflikte und soziale Missstände, zeigt die Dimension von Verbrechen auf höherer Ebene. strongwomen3Mit dem Blickwinkel der Frauen kommen Milieus und Bereiche ins Spiel, die sonst fehlen. Fragen des täglichen Lebens werden von Frauenseite nicht so leicht ausgeblendet – Gesundheit, Versorgung Schwächerer, Kinder, Alte etc. Das ergibt häufig komplexere Figuren, stellt realistische Alltagsbezüge her, sorgt für lebensnahe Brisanz. Schnell zwei konkrete Beispiele:

1. Aus Südafrika kommt in den letzten Jahren sehr eindrucksvolle politische Kriminalliteratur. Deon Meyer, Roger Smith, Mike Nicol, Max Annas und andere zeigen das Post-Apartheids-Südafrika als Gesellschaft im Umbruch, ein Land der Extreme. Diese Krimis sind beinhart, vielschichtig und intelligent, es geht um ethnische Konflikte, Waffenhandel, Korruption, Gangs, Kriegsgewinnlertum, soziale Schere u.v.m. Doch einige brisante Themen, die zentral zu Südafrika gehören, stehen kaum im Fokus. Selbstredend sind Gewalt gegen Frauen oder Politik um HIV und AIDS keine „weiblichen Themen“. Dennoch bleiben sie bei den Jungs weitgehend ausgespart. maggieCharlotte Otters Südafrika-Krimis sind so hardboiled und rasant wie die ihrer Kollegen, doch der Blick verschiebt sich. Es geht um Politik und Gewalt, aber eben auch um das Leben: Arzneimittel, Gesundheitspolitik, Aidsaufklärung (Balthasars Vermächtnis), bedrohte Spezies und Lebensräume, Artenvielfalt und Monokulturen (Karkloof Blue).

2. Monika Geiers Pfälzer Kommissarin Bettina Boll, episch-schwarzhumorig in der polizeilichen wie in der „privaten“ kulturellen und sozialen Realität geerdet, hat Alltagssorgen, wie sie Marlowe & Co. nie kannten: Ihr Chef und praktisch alle Kollegen stoßen sich daran, dass sie „bloß Halbtagskommissarin“ ist, weil sie nebenbei zwei Kinder großziehen muss. Das führt zu wunderbaren, kolossal anekdotischen Nebenschauplätzen, die den Plot fest im wahren Leben vFrauenerankern – großes Kino mit tollen Figuren.

Mir fallen noch viele Beispiele ein, von Melanie McGraths wunderbarer Innuit-Ermittlerin Edie Kiglatuk bis zu Liza Codys grandioser Obdachloser „Lady Bag“. Oft fragt man mich: Sind Frauen die besseren Autorinnen? Jahrelang las ich wesentlich lieber Frauen als Männer, weil sich im Genre auf Frauenseite viel mehr Neues tat, und das ging nicht nur mir so. Heute feiere ich die aktuelle Konjunktur des Politischen im Krimi, begrüße die Relevanz der Stoffe, die Welthaltigkeit. Letztlich kommt es darauf an, wie etwas geschrieben ist und was die Schreibweise mit mir macht. Ich will mich weder belehren lassen noch wollüstig gruseln, ich will mitreißende, realistische, spannende Romane über echte Lebenswelten, relevantes Zeitgeschehen. Mit sichtbaren Menschen in ihrer Vielfalt. Noirs und politische Krimis bringen in packenden Erzählungen an den Tag, wo und wie im Namen von Fortschritt und Zivilisation abgesahnt, betrogen, ausgetrickst, zerstört und getötet wird. Die tagtäglichen Anstrengungen der Redlichen, der Aufrechten und der Unbedarften verschwinden oft spurlos – so wie die Frauen aus der Geschichte. Denn wer in der – fiktionalen wie sachlichen – Geschichtsschreibung der Menschheit abseits von Modefragen und Dekorationsfiguren nach dem weiblichen Teil der Erdbevölkerung sucht, muss stets auf feministische Literatur zurückgreifen. Die Mainstream-Betrachtung reflektiert nun mal die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, indem die sichtbar gemachten Akteure fast ausschließlich aus christlich gebildeten männlichen Weißen bestehen (die vielleicht 5% der Weltbevölkerung ausmachen!), und fast alles dreht sich um ihre ach so vernünftigen Interessen und Konflikte. Doch in dieser Lesweise des Zeitgeschehens, die unsere Geschichtsschreibung ebenso manipuliert wie unsere Gegenwartsdeutung, gibt es ein schreckliches Übermaß an blinden Flecken, an Verdrängtem und Verschwiegenem.

Gute Kriminalromane machen das zum Thema, was in diesem Schweigen verborgen bleibt. Bild-085Durch alle Krimis feministischer Autorinnen zieht sich dieser Ariadnefaden. Wer ihm folgt, begibt sich ins Labyrinth der im kulturellen Mainstream wenig oder gar nicht präsenten Wirklichkeiten. Da werden recherchierte Fakten zu packend erzählten Panoramen menschlichen Lebens verwoben und so dem Dunkel des Schweigens entrissen. In der Fiktion, in der Kriminalliteratur formiert sich so eine Gegengeschichte, und in ihren erfundenen Plots steckt viel weniger Illusion als in der kolportierten Geschichtsschreibung wie auch Berichterstattung. Die Genre-Erzählung macht sichtbar, konkret vorstellbar, was Wahrheiten abseits des allgemein Verbreiteten sind. Sie fokussiert auf Dimensionen des Weltgeschehens, die sonst kaum oder allenfalls abstrakt in unserem Sichtfeld auftauchen. Das ist für mich des Krimis edelster Job. Und der weibliche Blick ist dabei so subversiv wie unverzichtbar.

Else Laudan

Erwähnte Bücher
Melanie McGrath: Im Eis (2011)
Liza Cody: Lady Bag (2014)
Charlotte Otter: Balthasars Vermächtnis (2013), Karkloof Blue (2015)
Monika Geier: Die Bettina Boll-Krimis. 1. Wie könnt ihr schlafen (1999), 2. Neapel sehen (2001), 3. Stein sei ewig (2003), 4. Schwarzwild (2007), 5. Die Herzen aller Mädchen (2009), 6. Die Hex ist tot (2013)

Über Else Laudan

Ich bin Else, seit 1988 als hartnäckige Feministin und Ariadne-Lektorin/Verlegerin unterwegs in der Kultur rund um den Krimi. Schlechte Schreibe, Leser/innenverarschung und die meisten sozialen Verhältnisse auf diesem Planeten finde ich kriminell. Natürlich diskutiere ich mit Begeisterung unser Projekt Ariadne: Bücher, Geschichte, Idee, Autorinnen, Label und Anspruch, alles. Krimis an sich faszinieren mich, und ich kommentiere alles gern.
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