„Kein fremder Land“ von Doris Gercke

Bildschirmfoto 2016-03-20 um 22.23.58von Merle Kröger

Flensburg 1

November 2015: Die Stimmung im Norden, wo ich geboren bin, ist wie das neblige Wetter – feucht, kalt und undurchsichtig. Der ICE nach Flensburg voll gestopft mit Menschen auf dem Weg von Syrien nach nirgendwo. Sie wollen nicht nach Dänemark, bloß nicht nach Dänemark, besser nach Schweden, aber es geht das Gerücht um, die Dänen lassen niemanden mehr durch. Neuigkeiten, gemurmelt, wabern in Wellen durch den Zug. Augen, die an Handys kleben. Augen, die zufallen vor Müdigkeit. Blicke aus dem Fenster: Sichtweite gleich null. Das Ende der Welt.

Flensburger Bahnhofshalle, gestapelt voll mit Leuten. Schnell weiter, wir haben es eilig, wir sollen lesen aus unseren politischen Büchern, Doris Gercke und ich. Unsere Körper schon im Taxi, die Gedanken noch im Zug. Es ist das erste Mal, das wir uns wiedersehen seit der Gründung von herland.

Im Laufe des Abends, vielleicht in dem luxuriösen Strandhotel an der Ostsee, wo wir untergebracht sind, sagt Doris, sie hätte 1993 unter dem Eindruck der Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda einen Roman geschrieben. Könnte sein, der wäre jetzt wieder relevant. Schick ich dir.

(K)ein fremder Land

Ein paar Wochen später – Anschläge in Paris, Polizisten mit Maschinenpistolen auf deutschen Bahnhöfen, Pegida, Legida, überall marschieren sie – liege ich im Bett. Es ist eine dunkle Nacht, nicht nur draußen, sondern von innen, weil ich gerade dieses Buch gelesen habe. In Portionen, ich hätte es gern am Stück verschlungen, konnte aber nicht. Es raubt mir, im wahrsten Sinne des Wortes, den Atem.

„Ich versuchte mir vorzustellen“, schreibt Doris Gercke im Vorwort der aktuellen Ausgabe, „wie ein Deutschland in dreißig Jahren aussehen würde, zu dem die politische Entwicklung nach rechts ungehindert vorangeschritten wäre. Als Ergebnis meiner Überlegungen entstand nach innen das Bild eines Überwachungsstaates, in dem jede demokratische Opposition ausgeschaltet ist, nach außen die Festung Europa, die mit raffinierten Mitteln verteidigt wird.“

Die Hauptfigur ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, Talbach. Keine Aufsteigerin, sondern eine, die sich mit Haltung ihren Platz erkämpft hat, das Alter hat sie stark gemacht, unabhängig, ein bisschen störrisch, das kann sie sich leisten. Doch die Welt, in der Talbach lebt, ist im Umbruch. Oder besser: Sie ist bereits umgebrochen, doch Talbach ist das entgangen. „Es schien ihr, als habe sie an ihrem Schreibtisch gesessen, und Märchen erfunden, während um sie herum Häuser angezündet werden.“ Sie hat sich eingerichtet in ihrer Arbeit, hat die Aufmerksamkeit schleifen lassen. „Wie konnte ich schreiben, dachte sie, ohne zu begreifen, was draußen vor sich geht. In unzähligen Interviews habe ich behauptet, dass mein Thema die Wirklichkeit ist. Welche Wirklichkeit denn?“

Die Allparteienkoalition, die das Land regiert, ist am Ende. Die Gewaltenteilung aufgeweicht, die Mächtigen fett, die Polizei rassistisch, Menschen ohne deutschen Pass eingesperrt in Lager, die sie nicht verlassen dürfen. Längst hat sich am rechten Rand eine neue Partei etabliert, die so genannten „Ethno-Zentristen“. Sie sind überall, meist schwarz gekleidet, mit einem Akzent in rot: unter den Marathonläufern, im Rathaus beim Empfang für die Bürger der Stadt. Sie geben den Etat für Wahlwerbespots lieber für soziale Zwecke aus, sie distanzieren sich nicht vom Faschismus, sie schlagen vor, die NS-Zeit und den Sozialismus, Geschichte an sich – einfach hinter sich zu lassen. „EIN UNGLÜCK ÜBERWINDET MAN DADURCH, DASS MAN ES VERGISST war eine ihrer beliebten Parolen.“

Am Tag vor der Wahl, so scheint es, bewegt sich endlich etwas. Ausgerechnet Kollegen aus dem Schriftstellerverband, denen Talbach vorwirft, sich gierig auf lukrative Fernsehverträge der gleichgeschalteten Medien zu stürzen statt den Mund aufzumachen, laden sie zu einem konspirativen Treffen ein. Auf dem Weg dahin wird sie von fünf Männern auf offener Straße zusammengeschlagen. Ein sechster, im schwarzen Anzug mit Krawatte, kommt ihr zuhilfe. Als sie sich umdreht, steht er bei den anderen.

Selbst unter Freunden, als man sich trifft, um den Wahlausgang im Fernsehen zu verfolgen, verwandeln sich die Studenten ihres Freundes Frank vor Talbachs Augen in nationalistische Widerlinge. Die Schriftstellerin beschließt, das Land zu verlassen. Sie hat ein Haus auf Mallorca, sie will an ihrem neuen Buch arbeiten, sie will sich weder vereinnahmen lassen noch den langen Weg des Widerstands gehen. „Und Angst? Habe ich Angst? Laufe ich weg, weil ich Angst habe? Sie sah auf ihren bräunlichen Körper im Wasser. Vom Wasser geglätteten Inseln gleich schwammen ihre Brüste auf der Wasseroberfläche. Plötzlich kam sie sich dünn und zerbrechlich vor, und eine sentimentale Regung erfasste sie. Nein, dachte sie. Angst habe ich nicht. Aber ich möchte gern heil bleiben.“

Ab hier läuft das Buch auf zwei Ebenen parallel: Talbach, so scheint es zunächst, richtet sich in ihrem selbstgewählten Exil auf Mallorca ein, während sich zu Hause die Situation zuspitzt und die, die dableiben wollen oder müssen, in die Entscheidung zwingt. So auch Frank, der dafür mit letztlich dem Leben bezahlt. Doch das ist nicht das Ende.

Gercke enthält uns nichts vor, nicht die pseudodemokratischen Entscheidungsprozesse, die langsam in Totalitarismus übergehen, nicht den Verrat, nicht die Absicht des Staates, Talbach, die erfolgreiche Schriftstellerin, zu vereinnahmen – mit allen Mitteln. Wir beobachten wie unter dem Mikroskop, in beklemmender Langsamkeit, manchmal wie in Zeitlupe, die grausame Zerstörung einer Persönlichkeit, ihrer vermeintlichen Fähigkeit zum autonomen Handeln. Viel zu spät begreift Talbach, dass sie keinen Spielraum mehr hat. Ihr bleibt nur noch eine einzige Entscheidung.

Flensburg 2

Der Taxifahrer, der mich zurück zum Bahnhof bringt, erklärt mir, dass in Dänemark die rechte Volkspartei die Wahlen zwar gewonnen aber die Regierungsbildung verweigert hat. Sie regieren das Land quasi aus der zweiten Reihe, sagt er, ohne sich für unliebsame Entscheidungen angreifbar zu machen. Daher die restriktive dänische Flüchtlingspolitik. Am Bahnhof sind heute noch mehr Gestrandete, es müssen Hunderte sein jetzt. Eisiger Wind zieht durch die Halle.

Auf dem anderen Bahnsteig gegenüber sitzt eine Familie. Eine Mutter, ein Sohn, vielleicht zwölf, ein Baby. Die Frau wickelt ihr Kind. Der Junge sieht zu. Auftritt: eine Frau in Uniform der Deutschen Bahn. Sie redet so laut, dass ich sie hören kann. „Wir schmeißen hier nichts hin!“ Sie deutet auf die Windel, die jetzt im Gleisbett liegt. Die Frau muss runter auf die Schienen, die Windel aufheben, wieder hochklettern. Die andere hat die Arme verschränkt, macht keine Anstalten, zu helfen. „Hier hinein. Restmüll!“ Der Junge steht fassungslos daneben und weint.

Leipzig

März 2016. Zweites Treffen von herland auf der Leipziger Buchmesse. Mein Zug aus Halle (Saale) ist voller Kinder in selbst erfundenen Kostümen zwischen Manga und Mittelalter. Wieso, frage ich mich, wollen die freiwillig in eine finstere Vergangenheit, in der Frauen verbrannt und Aufrührer gevierteilt wurden oder in eine ebenso finstere Zukunft, in der Computer die Welt beherrschen und Mädchen nur aus Augen und Titten bestehen? Die Männer am Stand der rechten Zeitschrift „Compact“ sehen aus wie leibhaftig gewordene Ethno-Zentristen aus Gerckes Science Fiction von 1993. Die AFD ist vor einer Woche mit 24,2 % bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt zweitstärkste Partei geworden. „Es ist für Schreibende im Allgemeinen befriedigend, wenn Aussagen, die sie gemacht haben, irgendwann eintreffen“, schreibt Gercke weiter im Vorwort. „Ich kann nicht sagen, dass dies für den vorliegenden Text auf mich zutrifft.“ Wer sich in ihre Welt, die damals Science-Fiction war und heute kein fremder Land mehr, hineinwagen will, sollte sich warm anziehen. Talbachs zunehmende Isolation ist kälter als der Bahnhof von Flensburg.

„Kein fremder Land“; 256 Seiten, edition Nautilus

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