In meinem Medizinstudium in Leipzig während der 1980er Jahre habe ich gelernt: Der Mensch ist männlich, 1,70 groß und 70 Kilo schwer – er ist das Maß. Kindern wurde immerhin ein physiologischer Sonderstatus zugestanden. Frauen kamen nur in der Gynäkologie vor. Ich fand das damals normal. Mein Weltbild war auch androzentrisch. Um „Normalität“ generell in Frage zu stellen, brauchte ich das Lernen – Fachärztinnenausbildung Anästhesiologie, Psychotherapieausbildung, Auseinandersetzen mit einer neuen gesellschaftlichen Realität nach 1989, Hineindenken in die Welt der Literatur, schreiben. Über Menschen, deren Welt von der „Norm“ abweicht am liebsten. Der Kriminalliteratur sind Normfragen innewohnend, denn sie befasst sich mit Gewalt, dem Teil menschlichen Handelns, der gern abgespalten und dem „Bösen“ zugeordnet wird. Darüber hinaus findet sich auch in ihr die Priorität des Männlichen, sowohl in den Texten als auch in der Aufmerksamkeit für den Autor. Einzusehen ist das nicht, denn Frauen haben zwar andere, aber nicht weniger spannende Wirklichkeiten. In meinen Texten versuche ich, den Lebensbereichen, in denen Frauen wirken, ihrer Sicht auf die Welt und ihrer „Normalität“ Raum zu verschaffen.
Anne Kuhlmeyer