Mikro-Leseempfehlung von Else:

Naomi Hirahara: Clark & Division

Übersetzt von Karen Witthuhn

Okay, um in dieser gruseligen Weltlage mal was Schönes zu bringen, hier ein überraschendes Leseerlebnis: CLARK & DIVISION von Naomi Hirahara – sehr zu empfehlen.

Der Roman ist von Karen Witthuhn ins Deutsche übersetzt und schon im Oktober ’22 bei Ars Vivendi erschienen. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso dieses Buch bisher so relativ wenig besprochen ist. Ich hab den Fehler gemacht, damit abends anzufangen, und konnte es nicht mehr weglegen, es wurde dann eine wirklich sehr kurze Nacht. Die Erzählweise hat mich gebannt, und als ich schon total drin war, da wurde es auch noch ganz lässig und unaufgesetzt ein Krimi.

Aki Ito erzählt ihre Geschichte, angefangen mit ihrer Geburt als Tochter von Issei in Los Angeles, vom Heranwachsen als Nisei, dann folgt Pearl Harbour und darauf Internierung für alle japanischstämmigen Menschen in den USA. Endlich der Lichtblick, aus dem Lager weg nach Chicago zu können. Und da, als alles gut werden soll, ist Akis drei Jahre ältere Schwester Rose plötzlich tot, und das kann Aki so nicht hinnehmen, sie traut sich raus in die wilde Großstadt und fängt an Fragen zu stellen …

Schnell noch ein Blurb von Meisterin Sara Paretsky, selbst Chicagoerin, die es auf den Punkt bringt: »Teils historischer Roman, teils Krimi und eine ergreifende Familiengeschichte vor dem Hintergrund des beschämenden Umgangs der US-Regierung mit Menschen japanischer Herkunft. Naomi Hiraharas begnadeter Schreibstil ist Spitzenklasse, sie erweckt eine historische Epoche zum Leben.«

Naomi Hirahara (Foto von Andy Holzman)

#makewomenvisible !

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Anne-Goldmann-Stipendium

Anne Goldmann, Schriftstellerin

Mit diesem Stipendium wollen wir Frauen zu mehr literarischer und inhaltlicher Courage im Genre Kriminalliteratur verhelfen. Für den Mut, Neues zu wagen, die Sicherheit des Altbewährten zu verlassen und in die Große Erzählung unserer Gesellschaft einzugreifen. So, wie es Anne Goldmann in ihren Romanen getan und für eine feministische Literaturproduktion gefordert hat. Nach dem HERland-Motto:
HINSEHEN, ERZÄHLEN, RISKIEREN.

Zu Annes Geburtstag:

Anne Goldmann (15.11.1961 – 11.10.2021) hat uns Herlanderinnen als Mitgründerin, Weggefährtin und Vertraute und als großartige Erzählerin mit ihrer so eigenen Stimme ermutigt.

In Gedenken an Anne Goldmann vergibt das Autorinnen-Netzwerk HERLAND ein Werkstipendium in Höhe von 3000,- €.
Es soll eine Autorin bei der Fertigstellung eines Werks deutschsprachiger Spannungsliteratur unterstützen.

Mehr dazu lest Ihr hier:

Anne-Goldmann-Stipendium

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Mikro-Leseempfehlung

Elizabeth Wetmore: Wir sind dieser Staub
Originaltitel: Valentine, übersetzt von Eva Bonné

Wahrlich kein Wellnesskrimi, es geht um Gewalt in vielen Schattierungen. Um brutale Vergewaltigung, um Machismo, Rassismus und andere Dünkel, um das Leben von Frauen im Texas der 1970er. Und doch muss ich die Lektüre glühend empfehlen, denn die verschiedenen Figuren in diesem Roman sind sensationell mitreißend, die dargestellte Realität mehr als glaubwürdig, die Erzählkunst schier atemberaubend.

Eine 14-jährige Latina überlebt sexuelle Gewalt, mehrere Frauen, die sich auf je eigene Weise mit den Verhältnissen arrangiert haben, weichen vom gewohnten Pfad ab, ein Kind ertastet sich seinen Weg ins Leben, Menschen fühlen, handeln, sitzen fest, bewegen sich …

Dieses Buch ist genial distanzlos, ein großes Epos über Frauenleben ohne Pathos, eine rasante Erzählung mit verblüffenden Twists. Selten hat mich ein thematisch so ungemütlicher Roman gleichzeitig so erfreut und begeistert. Unbedingt lesen.

Sylvia Staude schrieb in der FR: »Man kann dieses Buch in die Schublade Spannungsroman stecken, doch die Genre- und stilistischen Freiheiten, die Wetmore sich nimmt, heben es auf eine dünn besiedelte, eigene Ebene. Ihre Sprache ist drastisch, geradeheraus, aber auch poetisch; bisweilen hält man den Atem an angesichts ihrer Wucht.«

Autorin: Bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete Elizabeth Wetmore als Barkeeperin, Englischlehrerin, Taxifahrerin, Redakteurin von Psychologie-Dissertationen und Lackiererin von Silos und Kühltürmen in einer petrochemischen Fabrik. Eine Zeitlang lebte sie in einer Ein-Zimmer-Hütte in den Wäldern bei Flagstaff (Arizona) und jobbte als Ansagerin für klassische Musik. Als gebürtige West-Texanerin fühlt sie sich am wohlsten in der Wüste, am Meer oder an einem Berghang. Sie wohnt in Chicago, träumt aber davon, an zwei Ufern zu leben (Lake Michigan und Lake Travis). Wir sind dieser Staub ist ihr Romandebüt.

Übersetzerin: Eva Bonné studierte amerikanische und portugiesische Literatur in Hamburg, Lissabon und Berkeley. Sie übersetzt Literatur aus dem Englischen, u.a. Sara Gran, Amy Sackville und Rachel Cusk. Bonné erhielt mehrere Auszeichnungen, zuletzt 2022 den Ledig-Rowohlt-Preis. Sie lebt in Berlin.

Elizabeth Wetmore
Wir sind dieser Staub

Originaltitel: Valentine
Deutsch von Eva Bonné
Eichborn Verlag, Köln 2021
ISBN 978-3-84790-092-4
Gebunden, 320 Seiten, 22 EUR

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Achter März

Was ist passend zum Frauentag in diesen Zeiten, da patriarchale Machos Kriege anfangen, da Frauen in der Pandemie in unbezahlter Sorgearbeit ertrinken, da ihre Arbeit immer noch schlechter bezahlt und da sogar im satten, moderaten Deutschland jede Dritte mindestens einmal Opfer sexualisierter Gewalt wird? In Zeiten, da die meisten Frauen weiterhin weder Respekt noch gleiche Chancen und faire Arbeitsbedingungen erfahren noch ein Leben ohne Angst um den eigenen Körper kennen … Um all das endlich zu ändern, müssen wir beharren und kämpfen und erzählen und streiten und haben noch einen steinigen Weg vor uns. Wünschen wir einander Kraft, Mut und Zuversicht, feiern wir Solidarität, wo wir sie finden. Einen guten 8. März, Schwestern.

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Zwei „Herlanderinnen“ ausgezeichnet!

Beim aktuellen Deutschen Krimipreis wurden zwei HERLAND-Autorinnen ausgezeichnet:

Deutscher Krimipreis 2021 Platz 1 und 3.

Platz 1 geht an MERLE KRÖGER für ihren fünften Roman DIE EXPERTEN.

Merle Kröger ist ein Gründungsmitglied von Herland und bekannt für ihre hochpolitischen Krimis und ihre grenzüberschreitende Erzählweise – im Sinne von Genre- wie geografischen und medialen Grenzen.

Die Experten ist ein mitreißender dokumentarischer Thriller über eine junge Frau inmitten deutscher Nahostverstrickungen der 1960er. Merle Kröger bekam den Deutschen Krimipreis bereits 2013 für ihren dritten Roman Grenzfall sowie 2016 für ihren vierten Roman Havarie.

Platz 3 geht an SUSANNE SAYGIN für ihren zweiten Roman CRASH.

Susanne Saygin ist seit 2019 Teil des Herland-Netzwerks, sie stieß beim Potsdamer Kolloquium zu uns, und es hat auf Anhieb gepasst. Crash ist ein unkorrumpierbar kritischer, cool-kluger Thriller über Wirtschaft, Politik, fatale Maßstäbe und urbane Gegenwart: finster, packend und völlig schemafrei.

GLÜCKWUNSCH an zwei großartige Krimiautorinnen, die sich trauen, Neuland zu betreten und wegweisend zu erzählen.
Wir alle sind sehr stolz auf euch.

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Wir trauern um Anne Goldmann

 

 

 

Unsere Kollegin und Freundin, Anne Goldmann, ist am 11. Oktober 2021 für uns unerwartet nach schwerer Krankheit verstorben. Wir sind fassungslos und tief traurig.

„Es ist notwendig, weiter immer wieder, immer neu, die weibliche Realität und Wahrnehmung gegen die gängigen Bilder zu stellen, zu zeigen, was ist, auszuleuchten, was bislang im Dunkel geblieben ist. Ein umfassendes Bild der Welt zu zeichnen und sichtbar zu machen, was verdeckt und verschwiegen wird.
Die Strukturen sind verfestigt, das Spiel lange geübt. Es wird also, gleich, ob wir schreiben, beschreiben, ob wir zählen, einen langen Atem brauchen, um zu erreichen, dass die Mechanismen, die dieses Ungleichgewicht ermöglichen, nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Ich zähle auf die nächste Generation, die mit einem anderen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein aufwächst. Und auf alle, die – jetzt schon – offen und neugierig sind, sich nicht bedroht fühlen, wenn Gewohntes in Frage gestellt wird, sondern sich ernsthaft, lustvoll, spielerisch (was immer ihnen entspricht), darauf einlassen und entsprechend handeln.“ Anne Goldmann.

„Wir trauern um Anne Goldmann, unsere wunderbare Autorin, Freundin, Mitstreiterin, Vertraute. Annes unerwarteter früher Tod reißt eine schmerzhafte Lücke. Wir weinen um den Verlust einer staunenswert souveränen und großzügigen Frau voller Lebenserfahrung, stark, weise, lustig und voller Interesse an und Liebe zu Menschen. Als Freundin und energische Idealistin hat sie uns oft Wege gezeigt, mit Herz, Respekt und Mut für eine gerechtere Welt einzutreten, von Kleinlichkeiten abzulassen und aus Einfühlung eine Kraft zu machen, die nicht bremst, sondern antreibt.Als Schriftstellerin hat sie uns verzaubert mit ihrer einzigartigen Fähigkeit, hochspannend von widersprüchlichen, versehrten, strampelnden Menschen zu erzählen und deren Ängste, ihr alltägliches Ringen ungeschönt und doch zärtlich in soghafte, unter die Haut gehende Prosa zu verwandeln. Anne Goldmanns Romane sind Solitäre. Packende Thriller, die sehr reale Facetten von Gewalt und ihren Folgen in echten Leben thematisieren, sanft und gnadenlos. Ihr neues Buch wurde letzten Dienstag mit dem Leo-Perutz-Preis ausgezeichnet, gekürt von einer einstimmigen Jury. Dass sie sich darüber noch freuen konnte, ist ein kleiner Trost. Ihr präziser, geduldiger Blick, geschult und geschliffen in Dekaden harter Sozialarbeit, bleibt in ihren traumhaft schön geschriebenen Romanen erhalten.Es war ein großes Geschenk, mit Anne Goldmann zu arbeiten, zu sprechen, zu lachen und Pläne zu schmieden. In ihrem Herzensprojekt, dem feministischen Krimiautorinnen-Netzwerk Herland, lebt ihre Haltung weiter. Heiterer, uneigennütziger Respekt ist die Essenz ihres Wirkens. Danke, Anne.“ Else Laudan.

„Anne war so eigen, so apart. Immer schwarz angezogen, eine Wienerin, Städterin, mit einer riesigen (Bauern-)Familie als Hintergrund, Gespräche mit ihr waren intensivst. Sie war so mutig. Das hab ich so sehr bewundert, mit was für Menschen sie gearbeitet hat, mit den Versehrtesten, und sie hatte nie Angst, dass die sie auffressen. Sie ist ganz nah rangegangen. Und sie wurde nicht aufgefressen, jedenfalls nicht von den Menschen, sie hat ihnen geholfen und hat sich selbst dabei ohne Angst und Zaudern mit ihrer ganzen Person gegen Schmerzen, Wahnsinn, Unfähigkeit in den Ring geschmissen. Ich fand und finde sie toll. Ich heule schon den ganzen Tag und ich trinke jetzt mal auf Anne, sie hat ja nie mitgetrunken, aber irgendwie eben doch, sie hat freundlich nebendran gesessen und den Wahnsinn mitgetragen. Also auf Anne.“ Monika Geier

„Stimmt, Moni, genau, Anne hat nie mitgetrunken, aber freundlich nebendran gesessen und den Wahnsinn mitgetragen. Auch was du in der vorigen Mail schriebst, passt genau zu meinem ständigen Staunen über sie: unsere Anne war menschlich so riesengroß und dabei so sanft und ruhig, so gelassen; sie hatte jede ever nötige Härte und war zugleich ganz weich und liebevoll. Und wir haben so viel miteinander gelacht.“ Else Laudan

„Danke, liebe Anne, für deine Worte. Du hast so recht. Die immer wiederkehrende Frage geht mir im Kopf herum: What the fuck is going on? Warum müssen Freundinnen und Verbündete wie Marion von Osten, Francoise Cactus, Tatjana Turanksij und Anne Goldmann uns gerade verlassen?“ Merle Kröger

„Wie furchtbar, wie schmerzlich und in den Grundfesten erschütternd! Menschen, die gehen, werden in mir stets sehr groß, ich sehe Anne vor mir, ich fühle sie und höre sie reden und denke an ihre Klugheit und ihre Kraft, die mich immer sehr beeindruckt haben, und so wird sie für immer bei mir bleiben. Ich trauere sehr.“ Christine Lehmann

„Ich bin sprachlos. Gestern sah ich, dass sie den Perutz-Preis für Alle kleinen Tiere bekommt. Heute wollte ich ihr schreiben. Jetzt das. Ich bin froh, dass ich sie kennenlernen durfte. Ich bin froh, dass wir ihr etwas geben konnten, so wie sie uns.“ Zoë Beck

„Wir haben unglaublich viel gelacht und geredet, vor allem auf den Reisen zu und von unseren Herland-Treffen, aber auch bei gelegentlichen Treffen in Wien. Auf dem Weg zu Herland einmal fast den Flieger versäumt deshalb, auf dem Heimweg eine Station zu früh aus dem Zug gestiegen und erst nach einer Dreiviertelstunde gemerkt, dass wir auf unseren Anschlusszug auf diesem Bahnhof noch ewig hätten warten können. Weil sich mit ihr tiefe Gespräche führen ließen, auch wenn Hirn und Herz schon bis obenhin voll mit Eindrücken waren.“ Gudrun Lerchbaum

„Ich war ein paar Tage verreist, kam zurück, erfuhr aus Wien, dass Anne den Perutz-Preis gewonnen hatte, will ihr gratulieren und erfahre, dass sie gestorben ist. Nun sitze ich da und bin niedergeschmettert. Zu meiner letzten Lesung in Wien war sie gekommen! Ich wollte sie wieder treffen! Ich hab mich auf sie gefreut.“ Doris Gercke.

„Ich bin sehr traurig. Und dennoch irgendwie auch ruhig, denn es klingt, als könnte Anne in Frieden gehen. Ich bin traurig und wünsche Anne ihre Liebsten um sich. Und uns allen nur die schönsten Erinnerungen an sie.“ Sophie Sumburane

„Anne war voller Liebe und Kraft und Größe, ein Wesen von unfassbarer Schönheit, und seit ich heute gegen Mittag diese Nachricht bekommen habe bin ich … Auf Anne. Sie strahlt und lächelt und denkt und bleibt und begleitet uns weiter.“ Simone Buchholz

„Da ich unterwegs war, habe ich erst gestern Abend die unfassbar traurige Nachricht erhalten. Und ich fühle mich immer noch restlos besetzt davon und wie betäubt. Danke für all die Erinnerungen und Gedanken, die wir teilen dürfen. Ich habe mich Anne nahe gefühlt und vielleicht kann ich dabei mithelfen, ihre Wärme, ihre Klugheit, ihren Mut und die sanfte Härte ihrer Worte in der Welt weiterzubewegen.“ Uta-Maria Heim

Für ihren Krimi Alle kleinen Tiere hat Anne Goldmann am 12. Oktober den Leo-Perutz-Preis bekommen. Sie erfuhr es noch vor ihrem Tod und es war ihr eine große Freude.

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Frauen zählen in Irland

von Gabriele Haefs

„Look! It’s a woman writer!“ Verheißungsvoll der Titel, schön bunt das Cover. „Irish literary feminisms, 1970-2020“ ist der Untertitel, und natürlich wird zuerst nachgesehen, wer alles dabei ist, und wie es mit den Lieblingsautorinnen aussieht. Die eine Lieblingsautorin, Rita Kelly, finde ich immerhin in effigie, auf einem Foto von Büchern von irischen Autorinnen ist einer ihrer Lyrikbände zu sehen. Die andere Lieblingsautorin, Eilís Ní Dhuibhne, ist die Herausgeberin! Irgendein Name fehlt bei Anthologien immer, das ist klar, und im Vorwort schreibt die Herausgeberin, dass einige der gefragten Autorinnen einfach keine Zeit hatten, um etwas für dieses Buch zu schreiben, während sie und die anderen an dem Buch Beteiligten einige weitere ganz einfach vergessen haben, wofür sie um Entschuldigung bitten. Und das ist eigentlich schön! Es gibt jetzt also so viele irische Autorinnen, dass es möglich ist, einige zu vergessen.

22 Autorinnen kommen im Buch zu Wort, sie schreiben Romane, Theaterstücke, Lyrik und Kinderbücher, sie schreiben auf Irisch und auf Englisch. Die älteste wurde geboren 1943, die jüngste 1960. Damit finden sich einige Gemeinsamkeiten: Die meisten gingen noch zur Schule, als 1964 in Irland das Schulgeld für weiterführende Schulen abgeschafft wurde. Damit war auch Mädchen aus weniger wohlhabenden Familien der Weg zur Bildung und oft sogar zur Universität möglich. Dazu wurde der Zwangszölibat für Frauen im Staatsdienst abgeschafft, eine Karriere z.B. als Lehrerin wirkte gleich viel attraktiver, wenn sie bei der Heirat aufgegeben nicht werden musste. Und viele dieser Autorinnen studierten, als in den 1970er Jahren die neue Aufbruchsstimmung losbrach und sie von Frauenbewegungen in anderen Ländern hörten und dachten, wieso nicht auch bei uns? Und wieso nicht auch in der Literatur?

Jede der 22 Autorinnen hat einen Text über sich und ihren Werdegang geschrieben, dazu gibt es einen kurzen Lebenslauf und eine Liste ihrer Veröffentlichungen. Es gibt im Buch außerdem Poster, Postkarten, viele Fotos, von Aktionen in den 70er und 80er Jahren und von Büchern von irischen Autorinnen.

Eine überraschende Ähnlichkeit haben so gut wie alle: Sie erzählen von ihren ersten Leseerlebnissen. Und was haben sie gelesen? „Little Women“ (jede hat sich mit Jo identifiziert), Enid Blyton (und dann schrieben sie heimlich Internatsgeschichten mit sich in der Hauptrolle) und, sicher die große Überraschung, „Heidi“, was sie aber offenbar nicht zu literarischen Aktivitäten angeregt hat. Sie hatten also eine rein weibliche Einführung in die Literatur. Aber in der Schule und später an der Uni, wenn sie Sprachen oder Literatur studierten, ist lange Zeit keiner aufgefallen, dass nur Männer erwähnt und gelesen wurden, und dass die Studierenden vor allem Frauen waren, die Lehrenden aber Männer. Wer in Belfast studiert hat, schwärmt noch heute davon, was für ein inspirierender Lehrer der spätere Literaturnobelpreisträger Séamus Heaney war. Aber auch der setzte nur die Kollegen auf die Leselisten und ließ die Kolleginnen außen vor.

Als sie anfingen zu schreiben, fanden sie also keine weiblichen Vorbilder, und dann fielen sie aus allen Wolken, als ab Mitte der 70er Jahre mehr und mehr irische ehemals viel gelesene irische Autorinnen neu entdeckt und wiederveröffentlicht wurden. Hier gibt es übrigens einen Unterschied zwischen irischsprachigen und englischsprachigen Autorinnen. Die Irischsprachigen berufen sich auf drei Vorbilder: Péig Sayers, Máire Mhac an tSaoi und Eibhlin Dubh Ní Chonaill – allerdings, Péig Sayers wurde berühmt durch ihre autobiographischen Schriften, die in Irland Schullektüre sind (die eine Ausnahme also im rein männlichen Bildungskanon), die beiden anderen schrieben Lyrik, und wenn auch Máire Mhac an tSaoi als bedeutendste irische Lyrikerin des 20. Jahrhunderts gilt und Eibhlín Dubh (ca. 1743- 1800) die letzte überhaupt war, die in den klassischen gälischen Versmaßen dichtete, so halfen diese Vorbilder einer angehenden Romanautorin nicht weiter.

Immer wieder erwähnt, egal, welcher Sprache die Autorinnen schreiben, werden drei Namen: Die Verlegerin Jessie Lendennie gab schon vor 40 Jahren die Bücher heraus, die die etablierten Verlage zu schwer verkäuflich fanden. Der Journalist David Marcus bot in seiner Rubrik New Irish Writing in der Zeitung Irish Press für viele Autorinnen und Autoren die erste Veröffentlichungsmöglichkeit überhaupt war. Allerdings, die allererste Erzählung von Eilis Ní Dhuibhne, die ich je übersetzt habe, wurde von David Marcus abgelehnt, das schreibt sie hier im Buch, sie sei zu „ausgeflippt“ (erschienen unter dem Titel „Erfüllung“ in „Frauen in Irland“, DTV, 1991). Die dritte im Bunde ist die Lyrikerin Eavan Boland, die jederzeit jüngeren Kolleginnen an ihrem Wissen und ihren Erfahrungen teilhaben ließ.

Anstoß zu diesem Buch gab das Abbey Theatre, Irlands Nationaltheater. 2016 war die Jahrhundertfeier des irischen Osteraufstands zu feiern, und der Theaterchef gab Stücke zu diesem Thema in Auftrag, die dann aufgeführt wurden, alle von Männern. Bühnenautorinnen taten sich nun zur Aktion Waking the Feminists zusammen und forderten, auch die Arbeit von Dramatikerinnen zu sichten und ihnen eine Chance zu geben. Die in diesem Buch vertretenen Theaterautorinnen hatten ein déja vu-Erlebnis, 30 Jahre zuvor hatte es ähnliche Aktionen gegeben, worauf dann für einige Jahre auf irischen Bühnen mehr Autorinnen gespielt wurden. Unmerklich waren diese Aktionen in Vergessenheit geraten, so dass die jungen Autorinnen 2016 wieder das Gefühl hatten, ohne weibliche Vorbilder dazustehen.

Muss also jede Generation von Autorinnen das Rad neu erfinden? Nein, heißt es im Buch. Inzwischen sind wir so viele, natürlich werden einige in Vergessenheit geraten, aber es werden immer noch so viel übrig sein, dass die Erinnerung an die irischen Autorinnen nicht ganz verschwindet.

Eilís Ní Dhuibhne

Das Buch ist ein wunderbares Lesebuch, wir erfahren mehr über Autorinnen, die wir schon kennen, und sogar über Lieblingsautorinnen also Neues, bekommen Lust, andere zu entdecken, es ist Literatur- und Sozialgeschichte zugleich. Es gibt zudem Zahlen. Wie hoch ist der weibliche Anteil an der irischen Buchproduktion, wie hoch war er vor 50 Jahren, wie hoch in welcher Sprache, wie viele Bücher von Autorinnen werden rezensiert: Irish Times z.B. 29 %. (Wobei der Anteil der Autorinnen bei den Büchern in irischer Sprache niedriger liegt als bei denen, die auf Englisch schreiben, was nun wieder verwirrt, da diese drei irischsprachigen Autorinnen so oft erwähnt werden). Die offenbar magische Ein-Drittel-Hürde wird auch in Irland weiterhin nur selten übersprungen. Kommt es aber noch vor, dass Anthologien der angeblich besten irischen Kurzgeschichten herausgegeben werden, in denen nur Männer vertreten sind? Das immerhin nicht, die schrecklichen Poster „Irish Writers“ mit nur Männern, die auf Englisch geschrieben haben, gibt es allerdings weiterhin in jedem Buchladen. Wer übrigens nun Lust bekommt, sich auf die Suche nach Büchern von irischen Autorinnen zu machen, auch Verlage werden im Buch vorgestellt, besonders positiv erwähnt werden Arlen House und Attic Press (Frauenverlage) und Cois Life und Cló Iar Chonnachta (Bücher auf Irisch).

In vieler Hinsicht sieht es in Irland also nicht viel anders aus als hierzulande. Allerdings, die ermüdende Frage bei Interviews: So you are a woman writer? (auf Irisch gibt es ebenfalls keine feminine Form für scribhneoir, außer bean-scribhneoir), ist eigentlich nichts ins Deutsche zu übersetzen. Wie antwortet frau, und warum wird kein Kollege je gefragt: So you are a man writer?, überlegen die Irinnen – die Antwort steht noch aus.

Bei allem kommt heraus: In Irland ist es auch nicht anders als anderswo. Es wäre wunderbar, dieses Buch mit ähnlichen Übersichtsbüchern aus anderen Ländern vergleichen zu können.

  • Eilis Ní Dhuibhne (editor): Look! It’s a Woman Writer: Irish Literary Feminisms 1970 – 2020, Arlen House, http://www.arlenhouse.ie
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Haben die imaginären Räume jemals den male gaze hinter sich gelassen?

Unbedingt lesen! In der neuen Ausgabe von CARGO gibt es einen exzellenten Essay von Cristina Nord: Beide Augen schließen sich.

Alles, was Cristina Nord hier übers Kino und die Welt des Films berichtet, kennen wir exakt so aus der (Kriminal)Literatur. Die Kino- wie die Krimiwelt sind »endlessly fascinated by representations of male bad behavior: obsessive, dominating, abusive, violent« (Girish Shambu) – ungebrochen fasziniert von Abbildungen männlichen Danebenverhaltens: zwanghaft, anmaßend, übergriffig, gewalttätig.

#makewomenvisible

Als eine, die extrem viel Kriminalliteratur liest, bin ich wie Cristina Nord bis heute ständig am Zweifeln, ob die imaginären Räume auch nur ansatzweise den male gaze hinter sich gelassen haben. Auch wenn wir in den letzten Jahren viel Freude an niveauvoll reflektierender Vernetzung rund ums Krimigenre hatten, wozu insbesondere die »Krimis machen«-Konferenzen zählten, überschatten die althergebrachten blinden Flecken auch solche Zusamenkünfte denkender, krimiaffiner Menschen in erschreckendem Ausmaß. An »Krimis machen 4« in Köln muss ich unwillkürlich denken, wenn ich bei Cristina Nord diese Sätze lese: »Wo immer ich mich aufhielt, um das Schaffen von Regisseur*innen kennenzulernen oder mein Wissen darüber zu vertiefen, traf ich auf Filmkritikerinnen, Festivalarbeiterinnen und Filmemacherinnen. Die Kollegen hatten andere Termine.«

»Zeit für Workshops zum Thema Privilegien, wie man sie abbauen kann und was man gewinnt, wenn man das tut?« fragt Cristina Nord trocken. Das behalten wir mal für die nächste Genre-Zusammenkunft im Auge, ja?

Und bis dahin werden wir uns wohl immer wieder als feminist killjoy betätigen, ein Konzept, das Nord ebenfalls erläutert und das wir aus der Literatur bestens kennen – sei es in Gestalt von #frauenzählen oder anderen Kämpfen um Diversität und Einzug von nichtmännlichen Perspektiven in die Große Erzählung. Viele von uns, die wir auf Sichtbarkeit beharren, trifft der Vorwurf der Spielverderberin, weil wir die »automatisierte Ehrererbietung« (Nord) verweigern. Die Rolle der feminist killjoy scheint mir kreativ und ausbaubar. Bis das Spiel besser wird.

Den CARGO-Artikel bitte hier lesen:

https://www.cargo-film.de/heft/50/essay/beide-augen-schliessen-sich/

https://www.film-rezensionen.de/wp-content/uploads/2011/06/Geheimnis-hinter-der-T%c3%bcr-Frontpage.jpg

#makewomenvisible

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Das Landei zu Monika Geiers „Voll fiese Flora“

Liebes Stadtkind,

so viele Monate sind verstrichen, in denen es unmöglich war, Dich aufs Land einzuladen, dass es Zeit wird für Aufklärung, damit Dir das Draußen nicht abhandenkommt während der pandemischen Isolation.

Es geht um nichts weniger als um die Natur. Also das Grünzeug, das in der Erde wurzelt, manchmal auch anderswo.

Du weißt Bescheid? Wirklich?

Ja, es ist die Platane vor Deinem Haus. Und ja, auch Dein Kaktus, der auf dem Fensterbrett blüht. Durchaus Dein Joint vorm Schlafengehen, wenngleich Du den immer idealisiert hast. Streite nicht! Es ist die Kartoffel aus dem Bioladen ums Eck, ja. Alles liebe Leute – schattenspendend, ästhetisch, berauschend, nährend – Dir zu Diensten.

Aber so sind sie nicht, die Pflanzen und Pilze und Zwischenwesen. Sie sind nicht nur eine Unendlichkeit länger auf der Welt als Du, sie können eine Menge Dinge, von denen Du nicht das Geringste ahnst. Unterwandern, verführen, vergiften, umschlingen können sie, jahrzehntelang schlafen, plaudern, unterstützen, okkupieren, fliegen, sich verbünden, kämpfen … Die sind nicht lieb und arglos, wie Du immer gedacht hast. Seit der Romanik ist Schluss damit! Monika Geiers Buch erzählt davon in Miniaturen so kompakt wie Gedichte – einer Sammlung von Geschichten über Gewächse, die mit ihren Blättern, Sprossen und Blüten in unsere Kultur ragen, ja zutiefst darin verwurzelt sind.

Vom Seidelbast erzählt sie. Du weißt schon, der lila Strauch bei Oma im Vorgarten, den Du nicht anfassen durftest als Kind (also jetzt auch nicht, bitte). „Es [das Lokta-Papier] ist unter anderem deshalb so haltbar, weil das enthaltene Toxin die Verarbeitung zu Papier übersteht und Mäuse und Insekten fernhält.“ Auf diese Weise wurden uralte Schriften bewahrt. Ein freundlicher Frühblüher ist der Seidelbast, doch sein Gift dient vor allem SEINEN Nachfahren.

Den Eisenhut kennst Du. Aus Krimis. Außer für Mord wird er nicht benötigt, nur von sich selbst. Respektiert sei er, der große Blaue, um seiner selbst willen.

Hast Du schon mal die Marmelade vom Schwarzen Nachtschatten gekostet? Nein? Wie auch! Guck mal auf die Halde vom Abrisshaus nebenan, da steht er und auf Seite 46. Dass ihm Unrecht widerfuhr, liest Du dort. Gleichwohl verschafft ihm sein Ruf im Schatten der Tollkirsche ein behagliches Dasein in Europa. 

Da wäre noch die jugendstilistische Zaunrübe, märchenhaft ausufernd, mit ihrem vegetarischen Marienkäferkumpel. Den Aufruf der Autorin: „Pflanzt Zaunrüben“ möchte ich Dir nur weiterleiten, wenn Deine Parzelle zwei, drei Fußballfelder groß ist, sonst gibt’s Ärger mit dem Nachbarn. Aber malen könntest Du sie in einsamen Regennächten.

Monika Geier ist das genial gelungen. Ihre Illustrationen sind so verwunschen, erdig, komisch, romantisch, bunt und energetisch wie das Leben selbst. Erstaunliches wirst Du in ihren Texten finden, über Gifte und deren Besitzer, über ihre und unsere Geschichte, wie das Gute und das Böse beieinander wohnen. Du lernst Wesen aus Perspektiven kennen, die neugierig und es nötig machen, Deinen Platz zwischen ihnen, zu überdenken.

Achte mir, liebes Stadtkind, das Grün als Mitgeschöpf auf Augenhöhe, sei vorsichtig und schwelge derweil in Monika Geiers Geschichten, bis uns der Goldregen schneit.

Dein verwuchertes Landei

Monika Geier, Voll fiese Flora, Argument/Ariadne Hamburg, 96 Seiten, 30 Illustrationen der Autorin, 15 Euro

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An Nils und seine Wildgans gefesselt – Nobelpreis hin oder her

Über Selma Lagerlöf

von Gabriele Haefs

Frauen zählen, auch wenn wir beim Frauenzählen manchmal einen ganz anderen Eindruck bekommen, aber so erhellend und frustrierend, wie das Zählen sein kann, ist auch der Blick auf die Frauen, die einfach nicht übersehen werden können.

Eine neue Biographie (die noch keinen deutschen Verlag hat, es ist nicht zu fassen!) über Selma Lagerlöf bietet da eine Menge Anschauungsmaterial. Selma Lagerlöf war in vielen Situationen die „Erste“, erste Person aus Schweden, die einen Nobelpreis bekam, erste Frau, die mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, erste Frau in der Schwedischen Akademie … Die junge Journalistin Ellen Key sagte aus Anlass der Aufnahme in die Akademie:

„Selma Lagerlöf kam nicht durch die Frauenbewegung in die Akademie, aber mit Selma Lagerlöf kam die Frauenbewegung in die Akademie.“

Selma Lagerlöf war sich immer darüber im Klaren, dass sie vielfach die Erste war, aber nicht die Letzte bleiben wollte. Sie setzte sich energisch für weitere Frauen überall ein; dass 1926 die italienische Autorin Grazia Deledda mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, ist maßgeblich ihr zu verdanken: Die Akademieherren hatten nie von dieser Frau gehört und schlugen erst mal einen Mann nach dem anderen vor. Und so ungefähr das Erste, was die frischgekürte Nobelpreisdichterin Selma Lagerlöf öffentlich sagte, war: Weiterlesen

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